„Wenn es nicht eh schon meine Arbeit wäre, würde ich sie wahrscheinlich trotzdem machen.”

Ein Caux Refuge-Interview von Anastasia Slyvinska

03/06/2022
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Ein Caux Refuge-Interview von Anastasia Slyvinska

 

Dieser Artikel ist das fünfte Interview in einer Reihe von Gesprächen mit Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind und in Caux Forum in der Schweiz eine vorübergehende Unterkunft gefunden haben.

 

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Maria Raffin stammt ursprünglich aus Moldawien, lebt aber seit 17 Jahren in der Schweiz und zwei davon im Dorf Caux. Als Nachbarin des Caux Palace hatte sie sich schnell bereit erklärt, das Caux Refuge-Projekt zu unterstützen und den Menschen zu helfen, die seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine dort untergebracht sind. Zunächst war sie als Freiwillige tätig, arbeitet nun aber seit April als Verbindungsperson für das Caux Refuge und teilt sich diese Aufgabe mit ihrer Kollegin Ekaterina Gross.

 

Wie haben Sie vom Caux Refuge-Projekt gehört und wie haben Sie die ersten Menschen kennengelernt, die dort untergebracht sind?

Maria: Ich habe durch unsere Nachbarin Amandine davon erfahren. Sie fügte mich einer Online-Gruppe namens „Solidarität“ hinzu, in der Menschen aus dem Dorf begannen, lebensnotwendige Dinge zu sammeln und die Villa Maria für diejenigen vorzubereiten, die aufgrund des Krieges in der Ukraine ihre Heimat verlassen mussten. Alina war die erste Person, die ich in der Villa Maria traf. Ich war mit zwei Tüten voller Schokolade, Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs gekommen. Dann lernte ich Tetiana kennen. Amandine erzählte mir, dass Tetiana mit ihren drei Kindern gekommen war und später kamen Olena und ihre Stieftochter Masha dazu.

 

Sie haben also zunächst als Freiwillige geholfen?

Maria: Ja, anfangs war es keine richtige Stelle. Ich dachte nicht einmal, dass die Art und Weise, wie ich den Menschen geholfen habe, als Job betrachtet werden könnte, und so war ich völlig überrascht, als mir eine Teilzeitstelle bei IofC Schweiz angeboten wurde. Für mich ist es ganz normal, Menschen in solch schwierigen Situationen zu helfen, denn niemand weiss, in welcher Situation wir uns morgen befinden könnten. Mein Mann Alessandro hat mir sehr geholfen. Er hat mich vom ersten Tag an unterstützt und so viele Initiativen gestartet. Ohne seine Freundlichkeit und Ermutigung wäre es für mich sehr schwierig gewesen, diesen Weg zu gehen, und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

 

Marina with Ukrainians in Caux (photo: Anastasia Slyvinska)
Maria (zweite von rechts) mit Bewohnerinnen des Caux Refuge (Foto: Anastasia Slyvinska)

 

Gibt es eine persönliche Motivation für Ihr Engagement?

Maria: Nun, ich habe in der Vergangenheit Situationen erlebt, in denen ich Hilfe brauchte. Und nur wenige Menschen haben mir damals geholfen, weil die meisten nicht wirklich wussten, was los war. Ich war zu schüchtern, um zu fragen. Wenn man in einem fremden Land ist und niemanden kennt, ist es natürlich nicht leicht, um Hilfe zu bitten, weil man für alle ein Fremder ist. Aber wenn dir in einer solchen Situation jemand hilft, dann sagt man bei uns: „Dir wachsen Flügel“. Das bedeutet, dass man gestärkt wird und Motivation und Hoffnung gewinnt. Das ist wirklich viel wert. Ich habe diese Momente, in denen mir Fremde geholfen haben, nie vergessen. Ich finde, wir alle sollten einander in schwierigen Situationen unterstützen.

 

Für Sie ist dies also eine Art, anderen etwas zurückzugeben?

Maria: In gewisser Weise, ja... Ich hatte seit meiner Kindheit ein schwieriges Leben. Wenn man Hilfe braucht und niemand da ist – das ist hart. Wenn dann jemand, und sei es nur eine einzige Person, freundlich ist und einen unterstützt, spürt man, dass nicht immer alles schlecht ist. Mit der Zeit merkt man, dass man nicht viel braucht, um sich gut und erfüllt zu fühlen. Es ist sehr wichtig, gute Menschen um sich zu haben, Essen, eine Unterkunft, aber das Wichtigste von allem ist die Gesundheit. Alles andere kann und wird besser werden.

 

Und was hat Sie in diesen Monaten im Caux Refuge am meisten berührt oder beeindruckt?

Maria: Es sind diese absolut unschuldigen Menschen, die vor dem Krieg alles hatten... ein Zuhause, eine Familie, Gesundheit, Arbeit und alles, was sie sonst noch brauchten. Plötzlich mussten sie alles hinter sich lassen - alles, was sie liebten, zurücklassen und irgendwohin gehen, ohne zu wissen, wohin oder was sie erwartet. Sie wussten nicht einmal, ob sie die Reise überleben würden. Es ist natürlich eine sehr schwierige Situation, wenn man nicht weiss, wohin man geht und was einen dort erwartet. Ausserdem hat man das Gefühl, dass man keine Ansprüche stellen darf, dass man nicht einmal etwas erwarten darf. Es ist schwer, um Hilfe zu bitten. Und in diesem Fall mussten sie sogar um ganz grundlegende Dinge bitten, z. B. einen Schlafplatz oder etwas Essen.

 

Marina and Katia in Caux photo Alex Raffin
Maria (links) mit ihrer Kollegin Ekaterina Gross und den Caux Refuge-Bewohnerinnen Olena, Oksana, Liuba und Nadia (Foto: Alessandro Raffin)
 

Arbeiten Sie im Caux Refuge auch mit Kindern und älteren Menschen?

Maria: Auf jeden Fall! Es ist eine Sache, wenn die Menschen erwachsen sind, aber wir haben Kinder und ältere Menschen, die fliehen mussten und jetzt in der Villa Maria wohnen. Menschen wie Anna und Liudmyla, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, um eine Rente zu bekommen und in Frieden zu leben. Und dann mussten sie gehen, genau dann, als sie dachten, dass es endlich Zeit für sie wäre, eine Pause einzulegen und sich um sich selbst zu kümmern... Können Sie sich das vorstellen? Für mich ist das herzzerreissend. Aber ich denke, sie alle können sich glücklich schätzen, dass sie hier in Caux einen sicheren Ort gefunden haben.

 

Und was ist das Wichtigste bei Ihrer Arbeit? Was sind Ihre obersten Prioritäten?

Maria: Es geht darum, den Menschen zu helfen, sich an neue Umstände anzupassen und ihnen gleichzeitig das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen bei allem helfen kann. Ich kann diesen Krieg nicht verhindern, aber was immer in meiner Macht steht, werde ich tun. Daran gibt es keinen Zweifel. Wenn es nicht eh schon meine Arbeit wäre, würde ich sie wahrscheinlich trotzdem machen und mir so viel Zeit wie möglich nehmen, um diesen Menschen zu helfen.

 

Marina and Katia with the Fiauxs, 2022 photo: Corinne Meyer
Mit Maya und Jean Fiaux (von links) und Kollegin Ekaterina Gross (rechts) in Caux (Foto: Corinne J.)

 

Wie sind Sie zu dieser Stelle als Verbindungsperson gekommen und warum haben Sie sich für sie entschieden?

Maria: Ich wusste nicht, dass eine Stelle ausgeschrieben war, deshalb war ich überrascht, als ich ein Stellenangebot erhielt. Aber ich habe sofort zugesagt, weil mir die Tatsache gefällt, dass ich jeden Tag eine Menge lerne. Vor allem lerne ich viel über Menschen und menschliche Beziehungen. Es ist für mich sehr interessant zu sehen, wie IofC den Menschen hilft und ich bin neugierig, mehr darüber zu erfahren. Das alles macht für mich Sinn.

 

Was waren die wichtigsten und schönsten Momente während Ihrer Arbeit im Caux Refuge?

Maria: Es ist fast unmöglich, nur ein paar zu nennen. Wenn ich an meine Erfahrungen in der Villa Maria denke, dann ist jeder Moment und jedes Gespräch letztlich wichtig. Selbst wenn ich sie sortieren und all die verschiedenen Momente erneut betrachten würde, könnte ich mich nicht entscheiden. Jeder einzelne Moment hier war für mich schön, angefangen von der Einführung, dem ersten Abendessen bei unserer Familie, dem Osterfest... Im Moment planen wir ein Grillfest. Es werden noch viele weitere Momente folgen, und ich freue mich darauf, sie gemeinsam zu erleben. Ich bin Amandine, meinen ehrenamtlichen Nachbarn in Caux und IofC sehr dankbar, dass sie alle dieses Projekt möglich gemacht haben.

 

Über die Autorin

Anastasia Slyvinska

Anastasia Slyvinska ist Journalistin aus Kiew, Ukraine. Sie hat als TV-Moderatorin, Auslandsreporterin und Managerin für Medienunternehmen in der Ukraine und im Ausland gearbeitet. Da sie sowohl im ukrainischen als auch im kanadischen Parlament gearbeitet hat, kombiniert sie ihre Medienerfahrung mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund. Anastasia ist seit 2014 Teil der IofC-Gemeinschaft, als sie zum ersten Mal an der Konferenz Just Governance for Human Security teilnahm. Derzeit hält sie sich in Caux auf.

 

 

 

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Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung. Bitte helfen Sie uns und geben Sie bei Ihrer Spende "Caux Refuge" als Verwendungszweck an. Sollten Sie Vorschläge oder Fragen haben, können Sie uns gerne per Email kontaktieren.

 

 

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Bitte beachten Sie, dass die in diesen Artikeln geäusserten Meinungen die Ansichten der Befragten widergeben und nicht unbedingt die Meinung des Interviewers, der Interviewerin oder von Initiativen der Veränderung Schweiz widerspiegeln.

 

 

Foto oben: Anastasia Slyvinska

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Dieser Artikel ist das vierte Interview in einer Reihe von Gesprächen mit Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind und in der Caux Refuge in der Schweiz eine vorübergehende Unterkunft gefunden haben.

 

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Nach drei Monaten Krieg in der Ukraine denkt Oksana Stelmakh, eine Krankenschwester aus Charkiw, darüber nach, wie sich die aktuelle Situation auf ihre Familie auswirkt, die nun über drei Länder verstreut ist. Seit ihrer Ankunft in Caux Anfang April wohnen sie und eine Freundin im Caux Refuge und wagen langsam den Schritt in eine neue Zukunft.

 

Oksana, Sie sind am 3. April 2022 im Caux Refuge angekommen. Wohin sind Sie zuerst gegangen, als Ihnen klar wurde, dass Sie Charkiw verlassen müssen?

Oksana: Als wir Charkiw Anfang März verliessen, fuhren wir direkt nach Krementschuk, etwa 250 km von unserer Heimatstadt entfernt. Das war am zweiten oder dritten März. Ursprünglich wollten wir in die Westukraine fahren, aber schliesslich blieben wir in Krementschuk, weil es dort ruhig war. Freunde halfen uns, eine sehr schöne Unterkunft zu finden und die Einheimischen waren sehr freundlich. Damals waren wir uns noch sicher, dass alles bald vorbei sein würde und wir nach Charkiw zurückkehren könnten.

 

Und dann ist die Situation weiter eskaliert?

Oksana: Ja, nachdem wir Charkiw verlassen hatten, wurde die Situation immer schlimmer. Da rief mich Liuba an, eine Freundin und Kollegin von mir. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren. Es war ein Notruf, wie sich später herausstellte. Ihre Tochter hatte in der Vergangenheit mit Initiativen der Veränderung zusammengearbeitet und versuchte, ihre Mutter nach Caux zu evakuieren. Liuba fragte mich, ob ich in Anbetracht ihres Alters bereit wäre, sie zu begleiten.

 

Oxsana and Liuba at the Caux Refuge (photo Anastasia Slyvinska)
Liuba (links) und Oksana in der Villa Maria, wo sich das Caux-Projekt befindet (Foto: Anastasia Slyvinska)

 

Aber das bedeutete die Trennung von Ihrem Sohn, Ihrer Tochter und Ihrem Schwiegersohn.

Oksana: Ja, das stimmt. Deswegen habe ich es rundheraus abgelehnt. Ich hatte gehofft, bei meinen Kindern bleiben zu können. Wenn sie in Charkiw blieben, würde auch ich in Charkiw bleiben. Als wir aufbrachen, hatten wir fünf Minuten Zeit, um unsere Sachen zu packen, und ich war bereit, mit ihnen zu gehen. Aber an dem Tag erwähnte ich Liubas Vorschlag gegenüber meiner Tochter und ihrem Mann.

 

Und wie haben sie reagiert? Hatten sie Einwände?

Oksana: Nein, überhaupt nicht. Sie sagten sogar, dass ich auf jeden Fall gehen solle und dass sie dann mehr Ruhe hätten. Zu wissen, dass ich in der Schweiz in Sicherheit wäre, bedeute für sie auch, mehr Handlungsspielraum zu haben und mobiler zu sein. Es war keine leichte Entscheidung.

 

Sie haben sich also zunächst alle entschieden, in Krementschuk zu bleiben?

Oksana: Ja, zu der Zeit waren wir alle noch in Krementschuk. Wir wollten dort bleiben, solange es ruhig war. Uns war klar, dass sich die Situation verschlimmern könnte, aber zumindest konnten wir alle sofort in unsere Autos springen und wegfahren. Wir waren ziemlich viele, darunter auch die Eltern meines Schwiegersohns und ihre beiden Enkelkinder, denn ihre Tochter hatte die Ukraine bereits vor dem Krieg verlassen und war nach Frankreich gegangen. Sie wollten die Kinder irgendwie zu ihrer Mutter zubringen.

 

Haben sie es denn  geschafft, zusammen mit ihren Enkelkindern zu fliehen?

Oksana: Ja, aber am Ende sind sie nach Deutschland gegangen, weil ihre Tochter dort Arbeit gefunden hat und besser Deutsch als Französisch spricht. Sie lebt weit weg von meiner Tochter, die jetzt auch in Deutschland ist, aber auf der anderen Seite des Landes. Aber wenigstens sind sie im selben Land.

 

Caux view
Blick von Caux auf den Genfer See

 

Sind Sie das erste Mal in Caux? Was waren Ihre ersten Eindrücke von diesem Ort?

Oksana: Ich war noch nie in Caux. Es ist aussergewöhnlich. Die Schönheit dieses Ortes ist wirklich atemberaubend. Aber ich komme nicht umhin, die Dinge mit der Ukraine zu vergleichen, mit unserer Krim. Ich habe in meiner Jugend viel Zeit dort verbracht. Es ist sehr schön, und solche Vergleiche bringen mich immer zum Weinen. (weint)... Es tut mir leid.

 

Sind Sie oft in Kontakt mit Ihren Lieben, die in der Ukraine geblieben sind?

Oksana: Natürlich, wir haben dort eine grosse Familie. Es ist mittlerweile die vierte oder fünfte Generation, die seit 1927 im selben Haus wohnt. Meine Urgrosseltern haben es gekauft und wir leben immer noch dort. Diese Art der Vererbung ist in der Westukraine oder in einigen Dörfern recht üblich. Aber in Charkiw ist unsere Familie in dieser Hinsicht etwas Besonderes.

 

Sind Ihre Familienangehörigen jetzt noch in Charkiw?

Oksana: Eine meiner Cousinen ist nach Poltawa gegangen, aber sie plant bereits, bald nach Charkiw zurückzugehen, und eine andere Cousine hat Charkiw nie verlassen. Meine 82 Jahre alte Tante ist auch geblieben. Natürlich telefonieren wir sehr oft. Vor allem mein Sohn ist in dieser Situation auf sich allein gestellt, so dass wir noch öfter miteinander chatten, als dass wir telefonieren.

 

Oxsana and Liuba at the Caux Refuge (photo Anastasia Slyvinska)
Oksana (links) und Liuba in Caux (Foto: Anastasia Slyvinska)

 

Hat Ihre Tochter vor, Caux zu besuchen?

Oksana: Ja, meine Tochter und ihre Familie haben mich am Wochenende vor dem orthodoxen Osterfest für ein paar Tage besucht. Ich war sehr froh, sie endlich zu sehen, auch wenn es nur ein kurzer Besuch war. Ich werde sie in Deutschland besuchen, sobald sie die Möglichkeit haben, mich aufzunehmen. Aber mir ist auch klar, dass sie so viele Dinge zu tun und zu organisieren haben. Sie fangen in einem fremden Land alles von vorne an. Aber mein Sohn kann die Ukraine im Moment nicht verlassen, also ist mein grösster Wunsch, ihn zu sehen

 

Und wie geht es Ihrer Tochter und ihrer Familie in Deutschland?

Oksana: Ich habe den Eindruck, dass es ziemlich schwierig ist. Am Anfang hat meine Tochter die ganze Zeit geweint, alles fühlte sich einfach schlecht an, alles ist so anders als in der Ukraine. Sie wollte nur noch zurück nach Hause. Sie besuchen jeden Tag einen Deutsch-Intensivsprachkurs. Und der Umgang mit der deutschen Bürokratie braucht natürlich auch Zeit.

 

Für Sie alle ist die Situation völlig neu. Wie gehen Sie damit um?

Oksana: Es ist sehr schwierig. Meine Tochter hat mir gesagt, dass sie, wenn sie in Deutschland keine Arbeit findet, versuchen wird, bei der ersten Gelegenheit wieder nach Hause zu gehen. Auch meine Arbeitssituation zu Hause in Charkiw ist sehr unsicher. Bevor der Krieg ausbrach, habe ich als Krankenschwester in einer kleinen Klinik gearbeitet, aber ich weiss nicht, ob es nach meiner Rückkehr noch einen Job für mich gibt. Im Moment verschicke ich Bewerbungen für Stellen hier in der Schweiz. Unsere Verbindungskoordinatorin Katia im Caux Refuge hilft mir dabei, aber das braucht Zeit. Und die Sprache ist entscheidend.

 

Haben Sie schon mit dem Französischunterricht begonnen?

Oksana: Ich lerne mit Eliane, unserer Nachbarin, mit einer Gruppe in Clarens und online. Das ist sehr intensiv. Aber mir ist auch klar, dass ich nicht in einem Monat eine neue Sprache lernen kann, nicht in meinem Alter. Aber ich könnte mich um kranke Menschen in Kliniken und zu Hause kümmern, da diese Pflege keine fortgeschrittenen Sprachkenntnisse erfordert. Das ist alles sehr schwierig, aber ich fühle mich trotzdem unterstützt.

 

Und wie gelingt es Ihnen, in solch schwierigen Zeiten zuversichtlich zu bleiben? Sie sind noch immer so aktiv, positiv und lächeln.

Oksana: Ich glaube, das entspricht sowieso meinem Charakter. Ich würde nicht sagen, dass ich ein schwieriges Leben hatte, und ich bin es gewohnt, mit allem allein fertig zu werden. Ich habe mich früh scheiden lassen und musste mich während der grossen Krise in der Ukraine in den 1990er Jahren um unsere Familie kümmern. Und es ist gut, immer etwas zu tun zu haben. Das ist lebenswichtig, sonst bekommt man mit Sicherheit einen Durchhänger.

Und Liuba, mit der ich nach Caux gereist bin, ist so ein netter Mensch. Freundschaft ist das A und O, wenn es darum geht, harte Zeiten zu überstehen. Es wäre viel schwieriger, wenn ich alleine hier wäre. Mit Liuba kann ich über alles reden, und es ist auch angenehm, mit ihr einfach zu schweigen. Sie ist sehr verständnisvoll und ich wünschte, jeder hätte eine solche Freundin.

 

Was gibt Ihnen trotz allem Hoffnung für die Zukunft?

Oksana: Wissen Sie, alles verändert sich. Nichts ist von Dauer. Nichts hält ewig. Die Kurve ist so drastisch nach unten gefallen, dass sie irgendwann auch wieder so drastisch nach oben gehen muss! Davon bin ich absolut überzeugt und vertraue darauf.

 

 

Über die Autorin

Anastasia Slyvinska

Anastasia Slyvinska ist Journalistin aus Kiew, Ukraine. Sie hat als TV-Moderatorin, Auslandsreporterin und Managerin für Medienunternehmen in der Ukraine und im Ausland gearbeitet. Da sie sowohl im ukrainischen als auch im kanadischen Parlament gearbeitet hat, kombiniert sie ihre Medienerfahrung mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund. Anastasia ist seit 2014 Teil der IofC-Gemeinschaft, als sie zum ersten Mal an der Konferenz Just Governance for Human Security teilnahm. Derzeit hält sie sich in Caux auf.

 

 

 

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Bitte beachten Sie, dass die in diesen Artikeln geäusserten Meinungen die Ansichten der Befragten widergeben und nicht unbedingt die Meinung des Interviewers, der Interviewerin oder von Initiativen der Veränderung Schweiz widerspiegeln.

 

 

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