Europa: Mentalität der Vielfalt
Von Mary Lean
30/04/2024
Die spanische Journalistin Victoria Martín de la Torre interessiert sich leidenschaftlich für Europa, Vielfalt und interreligiöse Beziehungen. Nach 15 Jahren als Pressesprecherin der Fraktion der sozialistischen und demokratischen Parteien im Europäischen Parlament und zwei Büchern arbeitet sie nun beim Forschungsdienst des Europäischen Parlaments, der den Abgeordneten des Europäischen Parlaments wissenschaftliche Studien zur Verfügung stellt, und schliesst derzeit eine Doktorarbeit darüber ab, was die Pioniere der Europäischen Union in der Gründungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg dem Europa von Heute lehren könnten.
Als Fallstudie wählte Victoria das Young Ambassadors Programme von Caux Initiativen der Veränderung aus, ein intensives Trainingsprogramm für junge Europäerinnen und Europäer, die eine aktive Rolle bei der Umgestaltung der Gesellschaft übernehmen wollen. Ziel des Programms war es, sie mit praktischen Methoden und Werkzeugen auszustatten, um einen nachhaltigen Wandel herbeizuführen, eine tiefere Überzeugung für Europa zu wecken und sie mit einem Support-Netzwerk aus ähnlich engagierten jungen Menschen zu verbinden.
Als die EU gegründet wurde, war sie als Europäische Gemeinschaft bekannt, erklärt Victoria. Sie erklärt, die Gründungsväter hätten ihre Definition von "Gemeinschaft" aus den Schriften des Theologen und Philosophen Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert bezogen.
"Aquin sagte, dass in einer Gemeinschaft alle Mitglieder frei sind, sich daran zu beteiligen. Sie sind gleichberechtigt, geben ihr Eigeninteresse auf und streben nach dem Gemeinwohl. Er sagte auch, dass das gemeinsame Interesse viel mehr ist als die Summe der Einzelinteressen der Mitglieder." Diese Definition des gemeinsamen Interesses findet sich in den Verträgen, mit denen die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde.
Es gäbe rechtliche und institutionelle Modelle für die europäische Integration, erklärt Victoria, aber die Gründerväter seien der Meinung gewesen, dass man nur dann eine Gemeinschaft aufbauen könne, wenn die Menschen zusammenkommen. "Robert Schuman, der französische Politiker und einer der Gründerväter der EU, sagte, Europa sei kein geografisches Konzept, sondern eine Geisteshaltung. Diese Mentalität bedeutet, Unterschiede zu akzeptieren. Deshalb halte ich den interkulturellen Dialog für so wichtig."
Für ihre Doktorarbeit wählte Victoria drei Programme aus, an denen sie ihre Theorie, dass interkultureller Dialog Gemeinschaft schaffe, testen wollte: Das Young Ambassadors Programme (2015-2021) von Caux Initiativen der Veränderung, das junge Europäerinnen und Europäer zusammenbrachte, um die Verbindung zwischen persönlichem und globalem Wandel zu erforschen, Belieforama, ein Netzwerk kleiner Nichtregierungsorganisationen, das Schulungen zur Überwindung von Antisemitismus und Islamophobie anbietet, indem es sich mit Stereotypen und Vorurteilen auseinandersetzt, und Anti-Rumour Strategy, das von Rathäusern in verschiedenen Ländern und von der EU gefördert wird und Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund bekämpft.
Victoria stellte fest, dass alle drei Programme den Menschen als Beziehungswesen sehen und dass jedes von ihnen eine Atmosphäre schafft, in der Verbindungen entstehen. "Wenn man Hindernisse aus dem Weg räumt, sind die Menschen dazu geschaffen, sich zu vernetzten", sagt sie, weist aber darauf hin, dass die Frage bleibt, was gescheht, wenn die Menschen anschliessend wieder nach Hause gehen.
Als Victoria die Teilnehmenden und Facilitatorinnen und Facilitatoren der drei Programme befragte, fand sie nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Überraschungen: "Die meisten Leute sagten, dass die Projekte einen Samen in ihnen gepflanzt haben, so dass sie in Zukunft, wenn sie eine spontane Reaktion von Angst oder Vorurteilen haben, daran arbeiten können. Ich hatte erwartet, dass der Schlüssel dazu in den dauerhaften Freundschaften liegen würde, die die Menschen geschlossen haben, aber nicht alle haben ihre Freundschaften aufrechterhalten. Bewusstsein war das Wichtigste".
Sie fragte die Teilnehmenden, ob die Programme ihre Bereitschaft, Freundinnen und Freunde aus einer anderen Gruppe zu haben, erhöht hätten. Mindestens die Hälfte von ihnen verneinte dies - vielleicht, weil Menschen, die sich für solche Programme bewerben, ohnehin schon offen dafür sind, auf andere zuzugehen. Aber alle fühlten sich dafür verantwortlich, den Prozess, den sie erlebt hatten, weiterzugeben, und sei es nur in ihrem Familien- und Freundeskreis.
Als Victoria 2016 in Caux an der Konferenz "Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt" teilnahm, waren die kleinen sogenannten Gemeinschaftsgruppen, die sich für Momente der stillen Reflexion und des Austauschs trafen, ihr Höhepunkt. "Das war es, was mich am meisten mit den anderen Teilnehmenden verband. Ich liebe Initiativen der Veränderung und ihr Prinzip, dass Veränderung bei jedem selbst beginnt."
Mit Blick auf ihre persönlichen Erfahrungen war sie überrascht, als die Befragten sagten, die Informationen und das Wissen, das sie gewonnen hatten, seien genauso wichtig gewesen wie die menschlichen Verbindungen: "Selbst wenn man auf menschlicher Ebene Kontakte knüpft, kann es immer noch zu Missverständnissen kommen. Wenn man die Probleme nicht anspricht, bleibt die Verbindung auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Verstand und Herz sollten zusammengehen."
Man kann nur dann eine Gemeinschaft aufbauen, wenn Menschen wie du und ich zusammenkommen. (...) Europa ist kein geografisches Konzept, es ist eine Denkweise. Diese Mentalität bedeutet, Unterschiede zu akzeptieren. Deshalb halte ich den interkulturellen Dialog für so wichtig.
Victorias Leidenschaft für den interkulturellen Austausch geht auf das "beste Jahr ihres Lebens" zurück, das sie als 23-jährige Masterstudentin in New York verbrachte. Nachdem sie in einer "normalen" spanischen Familie in Madrid aufgewachsen war, fand sie sich im Studium mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aus aller Welt wieder: "Meine fünf besten Freunde waren Juden, Muslime und Christen."
Damals glaubte sie nicht an Gott, aber diese Freundschaften brachten sie dazu, ihre Meinung zu ändern: "Ich war mir nicht sicher, für welche Religion ich mich entscheiden sollte, also engagierte ich mich im interreligiösen Dialog." Heute ist sie überzeugte Katholikin und gründete 2009 das Abraham-Forum für interreligiösen und interkulturellen Dialog mit Sitz in Madrid.
Victoria kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit der Umbenennung der Europäischen Gemeinschaft in "Europäische Union" im Jahr 1992 etwas verloren gegangen sei: "Für viele Menschen wurde sie zu einem Wirtschaftsprojekt und nicht zu einer Gemeinschaft." Sie ist jedoch überzeugt, dass die Erfahrung von Covid dazu beigetragen hat, dies zu ändern: "Die Menschen in Europa haben erkannt, dass sie einander brauchen, und die Befürchtung, dass andere Länder dem Beispiel des britischen Brexit folgen könnten, haben sich bisher nicht bewahrheitet."
Gleichzeitig macht sie sich Sorgen über das Anwachsen des Nationalismus und die negative Einstellung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund: "In der EU wird viel über die Unionsbürgerschaft und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gesprochen. Das ist schön und gut. Aber was ist mit denen unter uns, die keine Bürgerinnen oder Bürger sind? Die Migrantinnen und Migranten, die mit Booten aus Afrika kommen, werden nicht wählen oder Steuern zahlen, zumindest vorerst nicht. Das heisst aber nicht, dass sie keine Menschen sind. Ich glaube nicht, dass man eine echte Europäische Gemeinschaft im Sinne der Gründerväter haben kann, wenn sie nur für Bürgerinnen und Bürger existiert. Sie muss für Menschen sein."
Ich glaube nicht, dass man eine echte Europäische Gemeinschaft im Sinne der Gründerväter haben kann, wenn sie nur für Bürgerinnen und Bürger existiert. Sie muss für die Menschen sein.
Demokratie befindet sich derzeit weltweit auf dem Rückzug. Wenn sich das Blatt wenden soll, müssen diejenigen von uns, die in Demokratien leben, eine entscheidende Rolle spielen. Demokratie kann nicht von aussen eingeführt werden, und jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg finden, um eine Regierung durch das Volk für das Volk zu ermöglichen. Wie auch immer sie aussehen mag, sie ist abhängig von einer gebildeten Bürgerschaft, einer gerechten Regierungsführung, einer integrativen Wirtschaft und wahrheitsgetreuen Medien.
In diesem Sommer wird das Caux Forum für Demokratie (15. - 19. Juli 2024) der Frage nachgehen, wie Demokratie in Europa und der Welt erneuert werden kann.
Nehmen Sie im Juli am Caux Forum für Demokratie teil und werden Sie Teil einer globalen Gemeinschaft von Changemakern!
Weitere Informationen und die Anmeldung finden Sie hier:
- ERÖFFNUNGSFEIER: Demokratie erneuern für eine integrative und friedliche Gesellschaft : 15. Juli 2024
- CAUX FORUM FÜR DEMOKRATIE: 15. – 19. Juli 2024