Der Libanon hat Besseres verdient
Caux Peace and Leadership-Programm (CPLP)
23/09/2020
Am 4. August 2020 erfuhr die Welt schockiert von der Explosion in der libanesischen Hauptstadt Beirut, die nicht nur hohe Sachschäden verursachte, sondern auch Menschenleben fordert. Aus der ganzen Welt wurden Botschaften der Liebe an die Menschen im Libanon geschickt.
Das Caux Peace and Leadership-Programm (CPLP) hat im Libanon eine starke Alumni-Präsenz. Sarah Taleb (ST) war CPLP-Teilnehmerin und zur Zeit der Explosion in Beirut. Sarah ist Produktionsleiterin, Projektmanagerin sowie Schriftstellerin und ist auf Kulturmanagement spezialisiert. Die folgenden Auszüge sind aus der virtuellen Diskussion zwischen Sarah (ST) und einem repräsentativen CPLP-Interviewer (RI).
RI: So schwierig es auch ist, würden Sie uns über Ihre Erfahrungen nach der Explosion in Beirut erzählen?
ST: Ich erinnere mich, dass mein Freund und ich an diesem Abend woanders schlafen gingen. Unser Haus war beschädigt und wir wollten nicht dortbleiben. Ich war tagelang wie betäubt, wir alle waren wie betäubt. Ich musste für meinen Freund da sein, auch wenn ich die Tatsachen immer noch verdrängte. Alles, was ich mir immer wieder sagte, war: "Nein, das ist nicht passiert". Ich hatte das Gefühl, dies sei der Anfang vom Ende. Ich war traurig und ich hielt an dieser Traurigkeit fest und weigerte mich, mir helfen zu lassen. Die Sache mit dieser Explosion und was sie von anderen unterscheidet, war nicht nur, wie stark sie war, sondern auch, was sie mit sich riss: eine ganze Stadt. Als ob unser kollektives Gedächtnis gerade einfach so ausgelöscht worden wäre. Die Häuser der Menschen wurden ausradiert, mit den Scherben gingen Menschenleben zu Bruch. Jeder kannte jemanden, der gestorben oder verletzt worden war. Nur wenige Tage nach der Explosion begannen wir damit, die Häuser von Schutt, Schmutz und zerbrochenem Glas zu säubern. Bis heute fahren wir alle jedes Mal zusammen, wenn eine Tür zuschlägt oder wir ein lautes Geräusch hören und wir denken sofort an den 4. August zurück, als in Beirut die Uhren gegen 18.00 Uhr buchstäblich stehenblieben.
RI: Was war Ihre erste Reaktion und die der Menschen in Beirut?
ST: Alle waren wütend. Ich war wütend, und die Proteste rührten aus der Wut und der Frustration darüber, dass unsere korrupte Regierung diese Menge Ammoniumnitrat unbeaufsichtigt gelassen hatte und wir dadurch Menschleben, Häuser und unsere Stadt verloren hatten. Während der Proteste beschoss uns die Armee immer wieder mit Tränengas, jeden Tag wurden Hunderte von Menschen durch die Proteste verletzt. Drei Tage lang war ich persönlich wütend auf den Libanon. Ich beleidigte Armeemänner beim Fahren, den Concierge auf dem Parkplatz, weil er mich nicht auf meinem Platz parken liess, und zwei Männer, weil sie mich einfach nur falsch anguckten. Ich kam an einen Punkt, an dem ich wusste, dass ich dieses Gefühlen der Wut loslassen musste. Ich wusste, dass ich etwas gegen diese Wut unternehmen musste: meine Freunde und meine Familie hatten Angst, dass ich dafür im Gefängnis landen könnte! Ich erinnere mich, dass ich tagelang an meiner PlayStation hing, ein Videospiel spielte und auf die Soldaten im Spiel schoss, ich glaube, das hat auch geholfen.
RI: Ich habe Ihren Facebook-Feed gesehen, aus dem hervorgeht, dass Sie in letzter Zeit Häuser angestrichen haben. Würden Sie mir mehr darüber erzählen?
ST: Ich hatte das Gefühl, dass ich vor Ort präsent sein musste. Wir mussten etwas tun, um voranzukommen. Es ging nicht um Inspiration, sondern um eine Notwendigkeit. Wir alle sahen einen enormen Bedarf und wir mussten auf die eine oder andere Weise darauf reagieren. Alle Menschen im Libanon haben zum Wiederaufbau ihrer Nachbarschaft beizutragen, ihren verletzten Nachbarinnen und Nachbarn geholfen oder gespendet. Ich habe Häuser gestrichen. Das gab mir die Möglichkeit, mit betroffenen Familien zusammenzusitzen, gemeinsam zu essen oder ein Bier zu trinken und einfach nur zu reden. Es hat Spass gemacht, neue Erinnerungen geschaffen - und darum geht es bei einem Haus. Es ist mehr als nur um Ziegelsteine, Farbe und einige Küchenustensilien.
RI: Das geht unter die Haut. Wie denken Sie drei Wochen nach der Explosion über Beirut und den Libanon?
ST: Der Schmerz wird niemals verschwinden. Allein die Tatsache, im Libanon zu leben ist schmerzhaft geworden. Der Libanon hat Besseres verdient. Aber Familien kennenzulernen, Menschen zu helfen und zu wissen, dass man diesen Menschen wichtig ist und diese Sie aufrichtig lieben und andersherum, lindert diesen Schmerz. Dies ist der Grund dafür, dass ich es schaffe, in den kommenden Monaten hier zu bleiben. Ich habe mich auch dafür entschieden, Häuser zu streichen, weil es eine Sache ist, die ich gerne tue. Ich finde, es ist eine Tätigkeit, die Menschen verbindet, ein symbolischer Akt. Ich habe meinen Platz gefunden und ich muss zugeben: wenn ich nicht so sehr an meinem persönlichen Wachstum gearbeitet hätte, wäre ich nie stark genug gewesen, Menschen in ihrem Schmerz und ihrem Leiden zu sehen und mich bereit zu fühlen, ihnen zu dienen und mich in sie einzufühlen.
Wenn Sie am Samstag, den 10. Oktober 2020 um 14.00 Uhr CEST mit den Alumni des Caux Peace and Leadership-Programm an einem Folgegespräch über den Libanon teilnehmen möchten, können Sie sich über diesen Link anmelden. Lesen Sie hier unsere allgemeinen Anmeldebedingungen.
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