"Afghanistan gab mir Wurzeln, Dänemark verlieh mir Flügel"
12/01/2021
Abeda Nasrat kam im Alter von zwei Jahren als Flüchtling aus Afghanistan nach Dänemark. Sie studiert jetzt Jura an der Universität Kopenhagen und arbeitet als studentische Hilfskraft am Dänischen Institut für Menschenrechte. Abeda war 2019 Teilnehmerin des Caux Peace and Leadership-Programm. In einem Interview für die CPLP Talks spricht sie über Kultur und Identität.
Was bedeutet "Kultur" für dich?
Wenn ich an Kultur denke, erinnere ich mich an die Dinge, mit denen ich aufgewachsen bin - meine Grossmutter, die mir Henna auf die Hände malte, das afghanische Neujahrsfest und die islamischen Feste, das Tragen afghanischer Kleidung, das Tanzen und all das Essen. Wie ich zu Hause lebte, unterschied sich deutlich von dem, was ich erlebte, wenn ich vor die Tür trat.
Ich kam nach Dänemark, als ich etwa zwei Jahre alt war. Ich wurde in einen Kindergarten für Flüchtlinge gesteckt. Ich hatte viele Freundinnen und Freunde, die wie ich zu einer 'Minderheit' gehörten. Uns verband die Tatsache, dass wir "nicht dazugehörten". Wir durchlebten die gleichen Schwierigkeiten. Wir hatten alle Probleme, Dänisch zu sprechen und schämten uns ein wenig dafür, eine andere Kultur zu haben. Ich wuchs umgeben von Menschen arabischer, somalischer und türkischer Herkunft auf.
Ich glaube nicht, dass ich mir die Frage nach Kultur bewusst gestellt hätte, wenn ich nicht in Dänemark und damit in einer Gesellschaft aufgewachsen wäre, in der meine Kultur in der Minderheit war. Ich wurde bald mit der Realität konfrontiert, dass die afghanische und die dänische Kultur sich in Widerspruch befinden. Die dänische Kultur ist sehr emanzipiert, die afghanische Kultur sehr traditionell. Es war schwer für mich, herauszufinden, was ich wollte, weil ich unter dem sozialen Druck beider Kulturen stand. Ich entschied mich immer für das Gegenteil. Zu Hause habe ich die dänische Kultur und in der Schule die afghanische Kultur vertreten. Das war meine Art, einen Raum zu finden, um mich selbst zu definieren und zu entdecken.
Wie wichtig war Sprache bei deiner Identitätsfindung?
Bei der Sprache, die wir als Menschen mit Migrationshintergrund teilten, ging es mehr darum, wie wir kommunizierten als darum, was wir sagten. Wir begrüssten uns alle mit einem Kuss. Wir waren alle, Kinder und Erwachsene, extrem ausdrucksstark. Uns allen gemeinsam war unsere Körpersprache, die kleinen Handlungen, die wir alle verstanden. Sprache war nicht so sehr das, was wir sagten, sondern das, was wir taten. Ich weiss, dass meine Grossmutter Henna liebt, also zeige ich ihr meine Wertschätzung, indem ich in ihr Zimmer gehe und sie bitte, meine Hände mit Henna zu bemalen. Dann leuchtet ihr Gesicht auf. Auch Musik ist ein wichtiges Merkmal, um mich zu identifizieren. Wenn ich Paschtu-Musik höre, verbinde ich mich mit dem Leben, das ich in Afghanistan nie hatte, und sie zeigt mir sozusagen, wer ich sein könnte.
Ich erinnere mich aus Caux, dass du eine aussergewöhnlich gute Fussballspielerin bist. Du hast uns gesagt, Fußball spiele bei deiner "Rebellion gegen die Erwartungen der afghanischen Kultur" eine Rolle.
In Afghanistan dürfen Frauen keinen Fussball spielen. Vor einigen Jahren musste ein Mitglied der afghanischen Frauenfussballmannschaft nach Dänemark fliehen, weil die Taliban hinter ihr her waren. Das zeigt, wie die afghanische Kultur Erwartungen an das Verhalten von Frauen stellt - auch an Männer, aber mehr an Frauen. Wenn Gäste kommen, sprechen wir auf eine bestimmte Art und Weise und verhalten uns auf eine bestimmte Art und Weise. Es gibt soziale Erwartungen und Schranken, sowohl für Mädchen als auch für Jungs.
Ich bin mit vier Brüdern aufgewachsen, habe 'Jungensachen' gemacht, bin auf Bäume geklettert und habe Fussball gespielt. Wenn wir nach Hause kamen, musste ich mich anders anziehen und das empfand ich als unfair. Wir mussten uns ohne Grund auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, ausser um zu sagen: "So sind wir und so machen wir das". Fussball war also meine Rebellion. Als jemand, der nie dazugehört hat, weiss ich, dass ich auf einen Fußballplatz gehöre.
Ich habe hart gekämpft, um meinen Eltern zu beweisen, dass ich nicht die Abeda sein kann, die sie wollen oder brauchen. Mein Vater war wirklich hilfreich, denn er war offen dafür, dass ich so sein kann, wie ich sein möchte. Er setzte sich mit mir zusammen und sagte, wir könnten uns in der Mitte treffen. Und das war wirklich wichtig für mich.
Ist Kultur aus deiner Sicht erlernt oder wird sie gelebt?
Ich ertappe mich dabei, dass ich die Strukturen, die nicht mit meinen persönlichen Werten übereinstimmen, in Frage stelle. Kultur gibt uns vor, was wir tun sollen und was nicht und manchmal sehen wir, dass das falsch und ungerecht ist. Als ich im Freundeskreis darüber sprach, waren wir uns alle einig, dass wir schnell über Dinge sprechen, die wir in unserer Kultur gerne ändern würden, aber wir finden es nicht leicht, diese Diskussionen zu Hause, in unseren Familien, zu führen. Es ist fast so, als ob wir es akzeptabel finden, zu Hause der Kultur nachzugeben und zu folgen.
Ich bin mit vielen Dingen nicht einverstanden, die in unserer Kultur vorherrschend geworden sind. Eines dieser Dinge ist der Fokus auf den materiellen Status. Menschen werden auf der Basis dessen beurteilt, was sie haben, im Gegensatz zu ihrem Charakter. Ich bin nicht einverstanden mit dem Konzept der Ehre, das unterschiedliche Massstäbe für verschiedene Geschlechter hat. Es stellt Frauen eine Falle und das ist an sich schon unfair. Der ewige Kampf besteht darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was man für richtig oder falsch hält, und dem, was die Kultur als akzeptabel und inakzeptabel ansieht.
Eine letzte Fangfrage: Wie identifizierst du dich selbst?
Ich habe gelernt, dass ich immer Schrägstrich-irgendetwas sein werde. Ich bin Dänin Schrägstrich Afghanin, Frau Schrägstrich burschikos, Flüchtling Schrägstrich Muslimin. Das sind alles meine Identitäten, aber am besten kann ich mich als Kind einer Drittkultur identifizieren. Meine Erziehung in Dänemark war so schön. Ich bin in der türkischen und arabischen Moschee aufgewachsen, also verbinde ich mich natürlich mit diesen Kulturen. Wenn ich mit meinen engen Freundinnen und Freunden zusammen bin, tanzen wir alle Dabke, Buraanbur und Attan (arabische, somalische und afghanische Tänze). Deshalb bedeutet mir Kultur so viel, denn sie gab mir die Kraft, mich mit Menschen aus der ganzen Welt zu verbinden.
Einer der Menschen, die mir geholfen haben, meine Identität zu finden, war mein Klassenlehrer Ole. Er hat mein Leben verändert. Ich ging auf eine katholische Schule und hatte es schwer, mich einzufügen. Er lehrte mich, stolz auf meine Werte und die Teile meiner Identität zu sein, die nicht dazu passten. Er war der erste Mensch in meinem Leben, der mich so akzeptierte, wie ich bin. Als wir unseren Abschluss machten, musste er eine Person auswählen, der er ein Stipendium geben wollte - und zur Überraschung aller wählte er mich.
Noch acht Jahre später erinnere mich an seine Rede. Er sagte, was er am meisten an mir geschätzt hätte, seien meine Wurzeln, meine Religion und die Kombination aus Dänemark und Afghanistan gewesen. Diese Worte liegen mir seit diesem Tag sehr am Herzen. Ich glaube wirklich, dass ich eine ganz andere Abeda wäre, wenn ich diesen Lehrer nicht getroffen hätte. Man könnte also sagen, dass Afghanistan mir Wurzeln gab und Dänemark mir Flügel verlieh.
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