Kultur, Herkunft und Freiheit
05/01/2021
Sebastian Hasse wuchs zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung nahe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze auf und reflektiert über Kultur, Emotionen und deren Einfluss auf unser Leben.
In genau dem Moment, in dem ich über meine kulturellen Wurzeln schreiben will, verspüre ich sie wieder - diese Abneigung und die unterdrückte Wut, die ungelebte Trauer und Hilflosigkeit. Seit ich zurückdenken kann, versuche ich mich von dieser Herkunft zu befreien, die mir einerseits so viel gegeben und andererseits auch so viel verweigert hat.
Ich bin in einer sogenannten Patchwork-Familie in einer mittelgrossen Stadt in West-Deutschland nahe der deutsch-deutschen Grenze aufgewachsen. Patchwork-Familien gab es damals noch nicht so häufig. Wir waren ein sehr bürgerlicher Haushalt, in dem der Vater das Geld verdiente und die Mutter Hausfrau war. Wie meine vier Schwestern besuchte auch ich das traditionsbewusste altsprachliche Gymnasium. Doch schon früh hatte ich Schwierigkeiten, mich damit zu identifizieren. Stattdessen bevorzugte ich die Teilnahme an der Musical-AG und meine erste Freundin lernte ich bei einem deutsch-französischen Schüleraustausch kennen.
Die deutsche Wiedervereinigung war das zentrale politische und kulturelle Ereignis meiner Kindheit, sowohl im Sinne einer gesellschaftlichen Herausforderung als auch in familiärer Bedeutung. Meine Stiefmutter, die mich mit etwa zwei Jahren übernommen hatte, kam aus der DDR und hatte dort zwei Jahre lange als politische Gefangene im Gefängnis verbracht. So richtig darüber geredet wurde zuhause allerdings nie. Auch über Gefühle wurde bei uns, meiner Ansicht nach, daheim nicht wirklich gesprochen. Das bedeutete nicht, dass es keine Gefühle gegeben hätte oder dass ich nicht geliebt wurde. Aber ich erinnere mich, dass ich als Kind in emotional schwierigen Situationen oft nicht so abgeholt wurde, wie ich es gebraucht hätte. Heute weiss ich, dass die Generation meiner Eltern sowie meiner Lehrerinnen und Lehrer dies nicht konnte, weil die Generationen davor es schlichtweg nie gelernt hatten. Diese Generationen hatten zwei Weltkriege durchlebt und zu verantworten.
Jede Prägung ist eine kulturelle Prägung. Kultur ist allumfassend und die Menschen, die einen prägen, können ihrer eigenen kulturellen Prägung genauso wenig entkommen wie man selbst. Es ist unfair, dass man nicht ändern kann, was einen insbesondere in frühester Kindheit geformt hat. Es tut weh und hält einen zurück. Sich davon zu befreien ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Lebensaufgabe.
Es sind genau diese Begegnungen, die mich immer wieder haben wachsen lassen, sowohl in meinem Eigenverständnis als auch in meiner Neugier auf die Welt.
Durch diese Arbeit an mir selbst habe ich mich in Caux immer gut aufgehoben gefühlt. Ich habe dort fast ausschliesslich Menschen getroffen, denen dies genauso wichtig war wir mir und die dies ebenso anstrebten wie ich selbst. Später habe ich verstanden, dass sich dieses Gefühl nicht auf Caux beschränkt - es begegnet einem dort nur in sehr konzentrierter Form. Dennoch wertschätze ich jeden einzelnen Moment, den ich im Rahmen der Caux-Konferenzen und des Caux Peace and Leadership-Programms dort verbringen durfte.
Die Begegnung mit Menschen, die andere kulturelle Wurzeln besitzen als ich selbst, hat mich immer wieder herausgefordert und oft auch überfordert. Aber es sind genau diese Begegnungen, die mich immer wieder haben wachsen lassen, sowohl in meinem Eigenverständnis als auch in meiner Neugier auf die Welt. Sie haben mir gezeigt, was ich schon besitze und was mir noch fehlt. Sie haben mir Stolz auf meine Herkunft gegeben und Verzweiflung darüber verspüren lassen, was mir in meiner Kindheit alles fehlte. Und es sind genau diese interkulturellen Begegnungen, die mir ein Gefühl reinster Lebensfreude schenken.
Sebastian Hasses beruflicher Werdegang verlief alles andere als geradlinig. Er begann mit einem Informatikstudium in seiner Heimatstadt Lübeck. Als er merkte, dass dieses Diplom ihn nicht glücklich machte, schlug er jedoch eine Schauspielkarriere ein, begann, Filme zu machen und kehrte schliesslich als IT-Berater in das Familienunternehmen zurück. Er ist erster Vorsitzender einer kleinen, ehrenamtlichen NGO in Berlin, die sich auf non-formale Bildung für junge Erwachsene in Mittel- und Osteuropa konzentriert. Durch mehrere internationale Begegnungen im Laufe der Jahre begegnete er IofC und Caux. Dies inspirierte ihn dazu, sich in Mediation ausbilden zu lassen und 2019 am Caux Peace and Leadership-Programm teilzunehmen. Sebastian liebt Geschichten und ist davon überzeugt, dass Paradoxien und widersprüchliche Perspektiven ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens sind.
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