Netzwerke für ein inklusives Europa schaffen
Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt 2018
20/08/2018
Eine Grundschullehrerin aus Weissrussland sitzt mit einem ehemaligen Neonazi aus Schweden, der sich mittlerweile gegen Extremismus bei Jugendlichen einsetzt, am Mittagstisch. „Was können wir als Eltern und Lehrerinnen und Lehrer tun?“, fragt sie ihn. Sie beginnen beim Essen ein Gespräch über Rassismus und über die schwierige Rolle von Lehrerinnen und Lehrern. Am nächsten Tag und zwei Etagen höher treffen sich Menschen aus Kurdistan, der Türkei und Armenien, die in der Diaspora leben und diskutieren über die Organisation einer internationalen Dialogplattform. Eine Ostukrainierin, die sich bei der Dialogarbeit in ihrer Heimat engagiert, stösst dazu und spricht über ihre Erfahrungen, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit in dieses Engagement mit einzubinden.
Genau diese Art Austausch von Wissen, Erfahrungen und Methoden möchte die Konferenz Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt schaffen. Mehr als 180 Teilnehmende aus 32 Ländern kamen vom 23. - 27. Juli 2018 im Caux Palace in der Schweiz zusammen, um sich auszutauschen, einander zu inspirieren und sozialen Zusammenhalt innerhalb ihrer Gemeinschaften zu entwickeln. Sie stammten aus unterschiedlichen Sektoren, wie Bildung, Menschenrechte, Gesundheitswesen, Medien, Politik und der Geschäftswelt. Obwohl die meisten aus Europa stammten, waren auch andere Kontinente vertreten. Auch Jugendliche der Programme Learning to be a Peacemaker und Young Ambassadors nahmen daran teil.
Die Herausforderungen für sozialen Zusammenhalt in Europa sind zahlreich und vielfältig, angefangen vom Aufstieg populistischen Parteien und der Flüchtlingskrise bis hin zum Krieg in der Ukraine. Und sie decken ein weites Spektrum ab: von zerbrochenen Familien bis hin zu polarisierten europäischen Institutionen. Trotz kultureller und historischer Unterschiede zeigte die Konferenz auf, wieviel wir voneinander lernen können. Während der viertägigen Trainingseinheiten konnten durch persönliche Geschichten, Veranstaltungen und informelle Treffen die wichtigsten Herausforderungen für sozialen Zusammenhalt deutlich gemacht werden.
Eine dieser Herausforderungen ist die Notwendigkeit der Selbsteinschätzung. Die Referentinnen und Referenten zeigten auf, wie Vorurteile und manchmal sogar Hass, innerhalb von Familien, im Bildungssystem und der Gesellschaft weitergegeben werden. Bis wir uns dessen bewusst werden und entscheiden, diese Narrative zu ändern, wird sich dardan nichts ändern können. „Ich habe mich überlegen gefühlt und mir wurde beigebracht, Roma ohne Grund zu verachten.“, sagte Diana Damsa aus Rumänien. Ihre Landsfrau Simona Toroṭcoi, selbst Roma, erzählte, wie sehr sie sich wegen all der Dinge, die sie hörte, für ihre Identität schämte. Ein niederländischer Türke sprach über die „Feinde“, die er von seinen ultranationalistischen Eltern geerbt hat.
Verschiedene Trainingsmodule befassten sich mit der Notwendigkeit der Selbsteinschätzung und griffen dabei auf Werkzeuge zurück, die Bewusstsein für Geschichtserzählung, Diskurse und persönliche Meinungen schaffen. „Ich wollte diese Methoden erlernen, um mit Flüchtlingen zu arbeiten.“, sagte der französische Manager Laurence Herr. „Dabei habe ich gelernt, zunächst mich selbst in Frage zu stellen. Ich dachte, keine Vorurteile zu haben, bemerkte aber, wie oft ich unbewusst nach solchen Vorstellungen handele.“
„Es bedarf mehr kritischen Denkens und wir alle müssen vermehrt lernen, Fakten zu prüfen.“, erklärte Hauptreferentin Tatiana Peric, Beraterin für den Kampf gegen Rassismus und Xenophobie für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Europa. „Diskriminierende Praktiken sind oft institutionell und systemisch. Dies macht es sehr schwierig, sie anzugehen und offenzulegen.“
Andere Themen waren die Bedeutung von Bildung, die Rekonstruktion der Geschichte und Achtsamkeit bei der Verwendung von Sprache. „Sprache muss inklusiv sein, sonst kann sie nicht verbinden.“, hob der britische Diplomat und Politiker Lord Ashdown hervor. „Wie können wir als Journalisten mitten im Krieg sicherstellen, nicht der Propaganda zum Opfer zu fallen?“, fragte der Journalist Oleksiy Matsuka aus der Ostukraine und Gründer des Donetsk-Instituts für Information. „Wie können wir Informationen unbefangen präsentieren?“
Matsuka und sechs weitere Journalistinnen und Journalisten aus der Ukraine trafen sich mehrfach während der Konferenz, um diese Fragen zu diskutieren. Ihre Problem liegt darin, ihre berufliche Unabhängigkeit unter schwierigen Umständen aufrecht zu erhalten und sie fühlen sich einem ethischem Journalismus verpflichtet, der zur Einheit in ihrem Land beiträgt. Sie nahmen sich vor, auch zu Hause ihre Erfahrungen austauschen und einander weiterhin unterstützten.
Auch andere wichtige Diskussionen fanden bei AEUB statt. An einem Nachmittag setzten sich Teilnehmende aus der Ukraine, Russland und Weissrussland zusammen. Alle arbeiten im Bereich Bildung, Menschenrechte, Politik und Journalismus. Während des Treffens wurde das Bedürfnis nach ehrlichem und sicherem Dialog zur Sprache gebracht. Rund 20 Jugendliche mit türkischen und armenischen Wurzeln traffen sich mehrfach, um darüber zu sprechen, wie man die Feindseligkeiten überwinden kann, die sie von ihren Eltern übernommen haben. Im letzten Jahre waren Teilnehmende aus den Niederlanden, Armenien und dem Libanon nach Caux gekommen. Dieses Jahr beschloss die Gruppe, diesen Dialog weiterzuentwickeln und eine internationale Plattform zu schaffen, um den Austausch zwischen Kurdinnen, Kurden, Türkinnen, Türken und Armenierinnen und Armeniern zu fördern.
„Die vorherrschende Struktur unserer Zeit ist das Netzwerk.“, so Lord Ashdown. Netzwerke können Gutes und Schlechtes bewirken. Diese Woche in Caux trägt dazu bei, Netzwerke zwischen Menschen zu bauen und zu stärken, denen persönliche Verantwortung für ein nachhaltiges und inklusives Europa am Herzen liegt.
Das Konferenzteam möchte jedem einzelnen dafür danken, der zum Erfolg der Veranstaltung beigetragen hat und lädt nächstes Jahr zur Konferenz "Werkzeuge für Changemaker 2019 - Vertrauen in Europa aufbauen" vom 9.-14. August 2019 ein.
Von Irene de Pous