Den Menschen hinter extremistischen Meinungen sehen
Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt 2018
18/10/2018
Der Austausch persönlicher Erfahrungen, das sogenannte Storytelling, ist ein zentraler Teil des Caux Forums, das jeden Sommer stattfindet. Eine der dramatischsten Geschichten, die dieses Jahr erzählt wurden, war die des ehemaligen Neonazis Peter Sundin aus Schweden. Als er im Rahmen der Konferenz Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt 2018 in der grossen Halle in Caux sprach, liefen der Frau neben mir die Tränen herunter. Sie konnte nicht wirklich in Worte fassen, warum ihr seine Geschichte so naheging, da sie selbst keine radikale Vergangenheit hinter sich hatte. “Aber es spricht mich zutiefst an”, sagte sie. “Da steckt so viel Mut dahinter.”
Peter Sundin erzählt seine Lebensgeschichte als eine Möglichkeit, um der Gesellschaft etwas zu “geben”, den Schaden, den er in seiner Jugend angerichtet hat, wiedergutzumachen. Er arbeitet in einem schwedischen Präventionszentrum, um Kriminalität und Radikalisierung vorzubeugen und arbeitet vor allem in Schulen. “Sich zu entschuldigen reicht nicht”, sagt Sundin. “Ich will Menschen zeigen, dass ich mich verändert habe und etwas zur Gesellschaft beitrage.”
Angesichts eines wachsenden Antiseminismus in ganz Europa erscheint Sundins Arbeit notwendiger denn je. In seinem Heimatland wurden die ultrarechten Schwedischen Demokraten im September zur drittgrössten Partei des Landes gewählt. Die Wurzeln der Partei sind in der Nazi-Bewegung der 80er Jahre zu finden, auch wenn sie sich davon distanziert hat.
In den letzten Jahren scheint auch die extremistische Nordische Widerstandsbewegung an Momentum zu gewinnen. 2015 gründete sie parallel zur militärischen Bewegung auch einen politischen Ableger und wurde in einige Gemeinderäte gewählt. Sundin würde hier am liebsten “mit dem Kopf gegen die Wand rennen”. Er weiss aus eigener Erfahrung, dass die Arbeit gegen Rassismus viel Zeit und Kraft kostet.
Sundin wuchs in einer rassistischen Familie auf, deren Prägung die Traditionen der Nazis waren, die aus den 1940er Jahren weitergereicht worden waren. Seine Mutter erklärte ihm, die schwierige finanzielle Lage der Familie sei die Schuld seines ausländischen Klassenkameradens, dessen Familie vor zwei Generationen nach Schweden gekommen war. Sein Bruder liess ihn White Power-Musik hören und er las Nazi-Zeitungen und Kinderbücher. In der Schule schloss er sich automatisch andern Jungen aus Nazi-Familien an.
Als die Schule sich bemühte, ihren extremistischen Einstellungen entgegenzuwirken, führte dies zu einer weiteren Radikalisierung. Die Schule lud einen Überlebenden des Holocaust zu einem Vortrag ein. Sundins Bruder warnte ihn, dies sei alles nur Betrug. Die Schule befahl Sundin und seinen Freunden, sich in die erste Reihe zu setzen. Er konnte fühlen, wie die anderen Kindern ihn anstarrten. Am nächsten Tag beschloss er, einen lokalen Ableger der Nationalen Jugend, einer landesweiten gewalttätigen Nazi-Bewegung, zu gründen. “Da ich fühlte, dass diese Organisation mich unterstützte, gingen wir in der Schule verstärkt auf Konfrontationskurs.”
Spâter nahm er an einem Angriff auf einen Ausländer teil. “Wenn man sich der Bewegung anschliesst, lernt man, seine Taten zu rechtfertigen. Daher rechtfertigt man Gewalt: dieser Mann war eine Gefahr für unser Land, daher ist es Selbstverteidigung. Das ist eine gute Sache.” Als die Nachrichten am nächsten Tag über den Angriff berichteten, hatte er einen Kloss im Hals. “Ich erkannte, dass ich mich aus diesem zerstörerischen Umfeld befreien musste”. Es war der Beginn eines Prozesses, der fünf Jahre dauern sollte, um sich von deinem nazistischen Umfeld loszusagen.
“Es war nicht einfach”, erklärte er. “Ich musste mich neu erfinden, neue Werte aufbauen, eine neue Weltanschauung. Manchmal erlebte ich Rückfälle. Ich kaufte wieder eine Nazi-Zeitung oder hörte alte Musik an. Es war leichter, Nazi zu sein. Da wusste ich, was ich zu tun hatte.” Vor allem aber musste er neue Leute kennenlernen. “Das wichtigste war, neue Narrative zu bekommen. Ich hatte immer geglaubt, die Juden würden alles kontrollierten, die Regierung, die Medien. Die Menschen ausserhalb unserer Bewegung waren blind und konnten das nicht sehen, es war unser Kreuzzug, ihnen die Wahrheit zu sagen.”
In dieser Zeit bedeutete ihm die Unterstützung eines lokalen Polizisten sehr viel. “Er half mir, die nächsten Schritte zu gehen. Er nahm mich mit zu McDonald’s. Ich war noch nie zuvor dort gewesen, weil ich dachte, es würde von Juden kontrolliert. Aber er sagte auch: “Du bist der Nazi, du bist derjenige, der sich ändern muss.”
Sein eigener Entwicklungsprozess half ihm, zu sehen, wie wichtig es ist, den Menschen hinter der extremistischen Einstellung zu sehen. “Ich war immer der Nazi-Peter, niemals nur Peter. In einem Gespräch kann man beweisen, dass man den anderen respektiert, auch wenn man dessen Meinungen nicht teilt.” Sundin ist überzeugt, das ein Veränderungsprozess nur dann beginnen kann, wenn man den Menschen erreicht. “Ich kann die Meinung eines anderen Menschen niemals ändern. Nur der Mensch selbst kann das tun. Aber ich kann Fragen stellen, die den andern zum Nachdenken anregen.”
Von Irene de Pous