2007: Mohamed Sahnoun – Verletzte Erinnerungen heilen
16/11/2021
Der algerische Diplomat und Botschafter Mohamed Sahnoun war von 2006 bis 2009 Präsident von Initiativen der Veränderung (IofC) International und gründete das jährliche Forum für menschliche Sicherheit in Caux. Andrew Stallybrass aus England und der Schweiz teilte sich in Genf ein Büro mit ihm:
Kurz nach Mohamed Sahnouns Wahl zum Präsidenten von IofC International wurde er im Schweizer Fernsehen über seinen autobiografischen Roman interviewt, den er gerade veröffentlicht hatte. Ich begleitete ihn ins Studio und sass mit den Technikerinnen und Technikern im Regieraum. Die transparente Authentizität dieses Menschen ohne sichtbarem Charisma hatte sie in seinen Bann gezogen.
Während des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich wurde Mohamed Sahnoun, wie viele andere junge Nationalisten, von den Sicherheitskräften verhaftet und in der berüchtigten Villa Suzini gefoltert. Er litt sein ganzes Leben lang unter den Folgen dieser schrecklichen Wochen; durch die Schläge und Ertränkungsversuche war er auf einem Ohr taub geworden.
Dieser grausame Krieg hinterliess Hunderttausende von Toten und Vertriebene und eine Geschichte, die bis zum heutigen Tag nicht völlig verheilt ist.
Fünfzig Jahre nach diesen Ereignissen veröffentlichte Sahnoun seinen Roman Mémoire blessée (Verletztes Gedächtnis). Er sagte, er habe diesen schon lange vorher für den privaten Freundeskreis geschrieben, aber erst die Berichte über die Folterungen in Abu Ghraib (Irak) im Jahr 2004 hätten ihn dazu veranlasst, ihn einem grösseren Kreis zugänglich zu machen.
Die Hauptperson des Romans, Salem (der auf Sahnouns Leben beruht), wird von Franzosen gerettet und beschützt; der Titel des Buches könnte also auch Geheiltes Gedächtnis lauten. Anna, eine Französin, die ihm geholfen hat, sagt im Buch: "Wir müssen immer bereit sein, das Leiden als Vorläufer der Freude zu akzeptieren. Die Geburt ist vielleicht das beste Beispiel für das, was ich meine."
Die transparente Authentizität dieses Menschen ohne sichtbarem Charisma hatte sie in seinen Bann gezogen.
Als Student in New York hatte Mohamed Sahnoun mitgeholfen, den ersten Staatsbesuch des Präsidenten des neuen unabhängigen Algeriens, Ahmed Ben Bella, in den USA zu organisieren. Der Besuch fand während der Kuba-Krise 1962 statt, welche die Welt in einen Atomkrieg zu stürzen drohte. Da Ben Bella nach Kuba weiterreiste, bat ihn Präsident Kennedy, als "Rückkanal" zum kubanischen Präsidenten Fidel Castro zu wirken. Bei dieser Gelegenheit traf Sahnoun zum ersten Mal mit Kennedy zusammen.
Dies war der Startschuss für seine spätere bedeutende diplomatische Laufbahn. Er war in Folge algerischer Botschafter in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Marokko und bei den Vereinten Nationen. Er sehnte sich nach dem Aufblühen Afrikas und setzte sich leidenschaftlich für die Lösung der postkolonialen Grenzstreitigkeiten und anderer Konflikte ein, welche die Entwicklung Afrikas behinderten.
Als Sondergesandter des UNO-Generalsekretärs vermittelte er in den 1990er und frühen 2000er Jahren in zahlreichen Konflikten in ganz Afrika. Als er für die UNO-Vermittlung in fünf Ländern gleichzeitig verantwortlich war, schlief er nur im Flugzeug auf dem Weg zwischen diesen Ländern. Er weigerte sich, Medikamente gegen Malaria einzunehmen, weil er fand, dass sie ihn zu einem Zeitpunkt abstumpften, an dem seine Wachsamkeit für eine erfolgreiche Vermittlung entscheidend sein konnte.
Sein vielseitiges Einfühlungsvermögen machte ihn ausserordentlich wirksam. Im Ruhestand in Genf nahm er einmal an einem Treffen von 200 Friedensschaffenden im Maison de la Paix teil. Plötzlich unterbrach der Vorsitzende die Sitzung mit den Worten: "Darf ich Sie auf die Anwesenheit eines Mannes aufmerksam machen, der mehr Konflikte gelöst hat als die meisten von uns überhaupt je gehört haben?"
"Darf ich Sie auf die Anwesenheit eines Mannes aufmerksam machen, der mehr Konflikte gelöst hat als die meisten von uns überhaupt je gehört haben?"
Sahnoun war begeistert vom Potenzial von Caux als einem Treffpunkt für Menschen, die sich mit den Herausforderungen von Krieg, Armut und Umweltzerstörung auseinandersetzten. In einer Zeit, in der sich die westlichen Mächte auf den "Krieg gegen den Terrorismus" konzentrierten, glaubte er, das eigentliche Problem sei nicht ein Kampf der Kulturen sondern die fehlende Sicherheit im weitesten Sinne, die alle Bedingungen für ein gutes Leben umfasst. Er gründete und leitete das Caux Forum für menschliche Sicherheit, das von 2008 bis 2012 jährlich stattfand.
Das Forum brachte Menschen aus Politik, Diplomatie, der Akademie, der Medien, der Wirtschaft und der Kunst zusammen, um die Voraussetzungen für menschliche Sicherheit zu erforschen und eine weltweite Koalition des Bewusstseins zu diesen Themen aufzubauen.
„Die Ursachen der Unsicherheit liegen auf zwei Ebenen.“ sagte Sahnoun, „Einerseits bei sozialem Zusammenbruch, Krieg, Erniedrigung ganzer Völker, ungleicher Verteilung des Reichtums... und andrerseits bei jenem festen, hartnäckigen Bereich in jedem von uns, der aus Bitterkeit und Konflikten besteht, der Hoffnung und Glauben abtötet und uns von Erneuerung abhält.“
Die Lösung der Konflikte von morgen erfordert eine Diplomatie, welche die Kunst beinhaltet, Menschen wirklich zuzuhören und ihre Verletzungen zu berücksichtigen.
„Eine präventive Strategie gegen die Ursachen der Unsicherheit zu finden, bei der Bewältigung von Konflikten mitzuhelfen und Millionen von Menschenleben zu retten, erfordert ein noch nie dagewesenes Mass an Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen allen Nationen und Beteiligten.“
„Die Menschheit kann sich dieser Art von Veränderung nicht entziehen, die bei jedem Einzelnen von uns beginnt, und dies bedeutet, dass wir uns persönlich herausfordern lassen und lernen zuzuhören. Die Lösung der Konflikte von morgen erfordert eine Diplomatie, welche die Kunst beinhaltet, Menschen wirklich zuzuhören und ihre Verletzungen zu berücksichtigen. Ohne dies kann die Zeitbombe der Demütigung nicht entschärft werden.“
Mohamed Sahnoun ist 2018 in Algerien gestorben. Für mich war er ein Mahatma - eine grosse Seele.
Mohamed Sahnoun hinterlässt das Andenken an einen äusserst weisen Menschen. Es gab nur sehr wenige Männer wie ihn.»
- Cornelio Sommaruga -
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Sehen Sie ein Interview mit Mohamed Sahnoun beim Caux Forum für menschliche Sicherheit 2011
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- Lesen Sie ein Interview mit Mohamed Sahnoun durch das Berkley Centre for Religion, Peace & World Affairs, 2011
- Healing Memories: An Exchange With Peacemaker Mohamed Sahnoun, von Katherine Marshall, Huffpost 10.05.2011
- Peace, Bread and Health, von Mohamed Sahnoun, For A New World, 2006
- Zum Gedenken an Mohamed Sahnoun, von Cornelio Sommaruga, 2018
- Zum Gedenken an Mohamed Sahnoun, 2019
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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Einzelpersonen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.
- Video: Initiativen der Veränderung Schweiz
- Fotos (ausser Porträt und Bild mit Katherine Marshall): Initiativen der Veränderung
- Mit Katherine Marshall: unbekannt
- Porträt: unbekannt
- Korrekturlesung: Maya Fiaux