2014: Catherine Guisan – Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt
10/12/2021
Catherine Guisan ist ausserordentliche Gastprofessorin an der Universität von Minnesota, USA und hat zwei Bücher über die ethischen Grundlagen der europäischen Integration geschrieben. Im Jahr 2014 hielt sie bei der ersten Konferenz zum Thema Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt eine Ansprache in Caux. Sie schreibt:
Als rebellische Teenager-Tochter eines Schweizer Politikers war es Musik in meinen Ohren, als ich vor vielen Jahren entdeckte, dass Führungspersönlichkeiten „Wandel herbeiführen“ können. Führungspersönlichkeiten können in Zeiten der stillen Reflexion auf kreative Ideen kommen und ihre Gefühle, ihr Verhalten und ihre Politik neu ausrichten. Darüber hinaus kann die Zivilgesellschaft (d. h. Sie und ich) dazu beitragen, Wandel voranzutreiben, indem sie den Menschen die Hand reicht und ihnen diesen Wandel vorlebt. Ich erfuhr ausserdem von der Rolle, die die Konferenzen in Caux bei der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt hatten. (1)
Ich arbeitete 22 Jahre lang hauptberuflich bei der Moralischen Aufrüstung (jetzt Initiativen der Veränderung), bevor ich eine akademische Laufbahn einschlug. Meine Forschung und Lehre sind von jenen Idealen geprägt, die ich in meiner Jugend angenommen und zum Teil in Caux gelernt habe.
Spulen wir vor ins Jahr 2014. Ich sprach auf einem zweitägigen Symposium in Caux mit dem Titel Damit Europa kein unvollendeter Traum ist und leitete gemeinsam mit Angela Starovoytova aus der Ukraine den Workshop „Paradigmenwechsel in den östlichen Regionen Europas“.
Es war Musik in meinen Ohren, als ich vor vielen Jahren entdeckte, dass Führungspersönlichkeiten „Wandel herbeiführen“ können.
Im Herbst 2013 hatte ich als Fulbright-Stipendiatin vier Monate in Russland verbracht. Ich erklärte meinen Studierenden in Sankt Petersburg, warum so viele Ukrainerinnen und Ukrainer mit der Entscheidung ihres Präsidenten, die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union (EU) zugunsten engerer wirtschaftlicher Beziehungen zu Russland zu verschieben, nicht einverstanden waren.
Die Euromaidan-Proteste Ende 2013 und Anfang 2014 brachten diese Entscheidung zu Fall. Dann annektierte Russland die Krim, und im Donbas in der Ostukraine brachen blutige Sezessionsbewegungen aus.
Als Tochter eines französischsprachigen Schweizer Vaters und einer griechisch-osmanischstämmigen Mutter ist mir der „unvollendete Traum Europas“ nicht fremd. Teil einer multiethnischen, multilingualen und multinationalen Familie zu sein ist eine intellektuelle und emotionale Achterbahnfahrt, die viel Arbeit erfordert. Doch was soll man im Kontext eines Krieges sagen?
Was soll man im Kontext des Krieges sagen?
Ich habe meine Rede in Caux folgendermassen betitelt: „Damit Europa kein unvollendeter Traum bleibt – in der Wahrheit leben“. Im Kommunismus war dies eine heroische Haltung, die den verstorbenen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel und andere ins Gefängnis brachte. Es bedeutete, die „innere Emigration“ (d.h. passiv zu werden und in der Konsumgesellschaft zu versinken) abzulehnen und mit Integrität aufzutreten. Was bedeutet es heute, in Europa „in der Wahrheit zu leben“?
Erstens ist da die „Wahrheit“ unserer Verpflichtungen. Selbst in demokratischen Regimen ist es nie einfach, seine Meinung zu sagen. Aber wie können wir sicherstellen, dass das, was wir sagen und tun, der Wahrheit entspricht? Die politische Theoretikerin Hannah Arendt definiert mit ihrem Konzept des „Urteilens“ den in Caux gelehrten Prozess der Selbstreflexion in Zeiten der Stille neu. Sie schlägt vor, unsere Meinungen in freien Debatten mit denen anderer zu vergleichen, aber auch, nach dem „stillen Sinn“ zu suchen, der in moralischen und praktischen Fragen als „Gewissen“ bezeichnet wird (2). Jean Monnet, der an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beteiligt war, wurde als „Mann der Stille“ bezeichnet, der Kraft und Klarheit aus seiner täglichen Meditationspraxis schöpfte. (3)
Wenn wir in der Geschichte etwas bewegen wollen, müssen wir uns mit unserer Definition von Europa auseinandersetzen.
Es gibt eine zweite Art von „Wahrheit“, die ebenso wichtig ist: die faktische Wahrheit. Wie ist das „Europa“ zu definieren, über dessen unerfüllten Traum wir in Caux gesprochen haben? Ist es die Europäische Union? Oder der Europarat mit seinen 47 Mitgliedsstaaten, einschliesslich Russland? Oder doch etwas Anderes? Wenn wir die Geschichte beeinflussen wollen, müssen wir uns mit unserer Definition von Europa auseinandersetzen.
Während des Workshops haben ich von Ukrainerinnen und Ukrainern mit unterschiedlichen ethnischen und sprachlichen Identitäten und Standpunkten gelernt. Caux ist ein grossartiger Ort für alle, die sich, so wie ich, für „gelebte Erfahrungen“ interessieren. Ein gemeinsames Anliegen der Ukrainerinnen und Ukrainer war Korruption, auch wenn die Kontaktaufnahme mit führenden Politikerinnen und Politikern nicht diskutiert wurde. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner gingen davon aus, dass die Ukraine bald der EU beitreten würde. Ich musste ihnen erklären, dass dies nicht der Fall sein würde, dass sie dieser Situation realistisch gegenüberstehen sollten.
Im November 2021 hörte ich einem anderen Ukrainer zu, einem Geschichtsprofessor. Es drohte wieder Krieg. Es könne nur eine politische Lösung für den ukrainisch-russischen Konflikt geben, sagte der Professor, und das würde Jahrzehnte dauern. Die deutsch-französische Annäherung sei ein Präzedenzfall.
Gilt diese Aussage auch nach der russischen Invasion im Jahr 2022? Früher oder später muss ein Waffenstillstand und später ein Frieden ausgehandelt werden. Zwei Völker werden sich wieder annähern müssen, so wie es die Franzosen und die Deutschen in 70 Jahren schwierigen Engagements getan haben.
Viele der mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich in Caux getroffen habe, sind heute damit beschäftigt, ihr Land zu verteidigen. Sie kommunizieren und bitten um Unterstützung durch das IofC-Netzwerk. Mögen sie eines Tages in der Lage sein, ebenso mutig zum Frieden beizutragen, wie sie die Freiheit verteidigen.
Dieser Artikel wurde erstmals im November 2021 verfasst und im August 2022 überarbeitet.
- (1) A Political Theory of Integration in European Identity, Catherine Guisan, Routledge, 2012, Chapter 2
- (2) The Life of the Mind, vol 1, Hannah Arendt, Harcourt Brace, 1978, pp 215-216
- (3) François Mitterrand in Jean Monnet, Éric Roussel, Fayard, 1996, p 914
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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Einzelpersonen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.
- Foto Portrait, in ihrem Büro und in Kaliningrad: Catherine Guisan
- Alle weiteren Fotos: Initiativen der Veränderung
- Korrekturlesung: Teresa Healey & Tatjana Horbenko-Enomoto