Eine Familie zwischen der Ukraine, Deutschland und der Schweiz
Ein Caux Refuge-Interview von Anastasia Slyvinska
24/05/2022
Dieser Artikel ist das vierte Interview in einer Reihe von Gesprächen mit Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind und in der Caux Refuge in der Schweiz eine vorübergehende Unterkunft gefunden haben.
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Nach drei Monaten Krieg in der Ukraine denkt Oksana Stelmakh, eine Krankenschwester aus Charkiw, darüber nach, wie sich die aktuelle Situation auf ihre Familie auswirkt, die nun über drei Länder verstreut ist. Seit ihrer Ankunft in Caux Anfang April wohnen sie und eine Freundin im Caux Refuge und wagen langsam den Schritt in eine neue Zukunft.
Oksana, Sie sind am 3. April 2022 im Caux Refuge angekommen. Wohin sind Sie zuerst gegangen, als Ihnen klar wurde, dass Sie Charkiw verlassen müssen?
Oksana: Als wir Charkiw Anfang März verliessen, fuhren wir direkt nach Krementschuk, etwa 250 km von unserer Heimatstadt entfernt. Das war am zweiten oder dritten März. Ursprünglich wollten wir in die Westukraine fahren, aber schliesslich blieben wir in Krementschuk, weil es dort ruhig war. Freunde halfen uns, eine sehr schöne Unterkunft zu finden und die Einheimischen waren sehr freundlich. Damals waren wir uns noch sicher, dass alles bald vorbei sein würde und wir nach Charkiw zurückkehren könnten.
Und dann ist die Situation weiter eskaliert?
Oksana: Ja, nachdem wir Charkiw verlassen hatten, wurde die Situation immer schlimmer. Da rief mich Liuba an, eine Freundin und Kollegin von mir. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren. Es war ein Notruf, wie sich später herausstellte. Ihre Tochter hatte in der Vergangenheit mit Initiativen der Veränderung zusammengearbeitet und versuchte, ihre Mutter nach Caux zu evakuieren. Liuba fragte mich, ob ich in Anbetracht ihres Alters bereit wäre, sie zu begleiten.
Aber das bedeutete die Trennung von Ihrem Sohn, Ihrer Tochter und Ihrem Schwiegersohn.
Oksana: Ja, das stimmt. Deswegen habe ich es rundheraus abgelehnt. Ich hatte gehofft, bei meinen Kindern bleiben zu können. Wenn sie in Charkiw blieben, würde auch ich in Charkiw bleiben. Als wir aufbrachen, hatten wir fünf Minuten Zeit, um unsere Sachen zu packen, und ich war bereit, mit ihnen zu gehen. Aber an dem Tag erwähnte ich Liubas Vorschlag gegenüber meiner Tochter und ihrem Mann.
Und wie haben sie reagiert? Hatten sie Einwände?
Oksana: Nein, überhaupt nicht. Sie sagten sogar, dass ich auf jeden Fall gehen solle und dass sie dann mehr Ruhe hätten. Zu wissen, dass ich in der Schweiz in Sicherheit wäre, bedeute für sie auch, mehr Handlungsspielraum zu haben und mobiler zu sein. Es war keine leichte Entscheidung.
Sie haben sich also zunächst alle entschieden, in Krementschuk zu bleiben?
Oksana: Ja, zu der Zeit waren wir alle noch in Krementschuk. Wir wollten dort bleiben, solange es ruhig war. Uns war klar, dass sich die Situation verschlimmern könnte, aber zumindest konnten wir alle sofort in unsere Autos springen und wegfahren. Wir waren ziemlich viele, darunter auch die Eltern meines Schwiegersohns und ihre beiden Enkelkinder, denn ihre Tochter hatte die Ukraine bereits vor dem Krieg verlassen und war nach Frankreich gegangen. Sie wollten die Kinder irgendwie zu ihrer Mutter zubringen.
Haben sie es denn geschafft, zusammen mit ihren Enkelkindern zu fliehen?
Oksana: Ja, aber am Ende sind sie nach Deutschland gegangen, weil ihre Tochter dort Arbeit gefunden hat und besser Deutsch als Französisch spricht. Sie lebt weit weg von meiner Tochter, die jetzt auch in Deutschland ist, aber auf der anderen Seite des Landes. Aber wenigstens sind sie im selben Land.
Sind Sie das erste Mal in Caux? Was waren Ihre ersten Eindrücke von diesem Ort?
Oksana: Ich war noch nie in Caux. Es ist aussergewöhnlich. Die Schönheit dieses Ortes ist wirklich atemberaubend. Aber ich komme nicht umhin, die Dinge mit der Ukraine zu vergleichen, mit unserer Krim. Ich habe in meiner Jugend viel Zeit dort verbracht. Es ist sehr schön, und solche Vergleiche bringen mich immer zum Weinen. (weint)... Es tut mir leid.
Sind Sie oft in Kontakt mit Ihren Lieben, die in der Ukraine geblieben sind?
Oksana: Natürlich, wir haben dort eine grosse Familie. Es ist mittlerweile die vierte oder fünfte Generation, die seit 1927 im selben Haus wohnt. Meine Urgrosseltern haben es gekauft und wir leben immer noch dort. Diese Art der Vererbung ist in der Westukraine oder in einigen Dörfern recht üblich. Aber in Charkiw ist unsere Familie in dieser Hinsicht etwas Besonderes.
Sind Ihre Familienangehörigen jetzt noch in Charkiw?
Oksana: Eine meiner Cousinen ist nach Poltawa gegangen, aber sie plant bereits, bald nach Charkiw zurückzugehen, und eine andere Cousine hat Charkiw nie verlassen. Meine 82 Jahre alte Tante ist auch geblieben. Natürlich telefonieren wir sehr oft. Vor allem mein Sohn ist in dieser Situation auf sich allein gestellt, so dass wir noch öfter miteinander chatten, als dass wir telefonieren.
Hat Ihre Tochter vor, Caux zu besuchen?
Oksana: Ja, meine Tochter und ihre Familie haben mich am Wochenende vor dem orthodoxen Osterfest für ein paar Tage besucht. Ich war sehr froh, sie endlich zu sehen, auch wenn es nur ein kurzer Besuch war. Ich werde sie in Deutschland besuchen, sobald sie die Möglichkeit haben, mich aufzunehmen. Aber mir ist auch klar, dass sie so viele Dinge zu tun und zu organisieren haben. Sie fangen in einem fremden Land alles von vorne an. Aber mein Sohn kann die Ukraine im Moment nicht verlassen, also ist mein grösster Wunsch, ihn zu sehen
Und wie geht es Ihrer Tochter und ihrer Familie in Deutschland?
Oksana: Ich habe den Eindruck, dass es ziemlich schwierig ist. Am Anfang hat meine Tochter die ganze Zeit geweint, alles fühlte sich einfach schlecht an, alles ist so anders als in der Ukraine. Sie wollte nur noch zurück nach Hause. Sie besuchen jeden Tag einen Deutsch-Intensivsprachkurs. Und der Umgang mit der deutschen Bürokratie braucht natürlich auch Zeit.
Für Sie alle ist die Situation völlig neu. Wie gehen Sie damit um?
Oksana: Es ist sehr schwierig. Meine Tochter hat mir gesagt, dass sie, wenn sie in Deutschland keine Arbeit findet, versuchen wird, bei der ersten Gelegenheit wieder nach Hause zu gehen. Auch meine Arbeitssituation zu Hause in Charkiw ist sehr unsicher. Bevor der Krieg ausbrach, habe ich als Krankenschwester in einer kleinen Klinik gearbeitet, aber ich weiss nicht, ob es nach meiner Rückkehr noch einen Job für mich gibt. Im Moment verschicke ich Bewerbungen für Stellen hier in der Schweiz. Unsere Verbindungskoordinatorin Katia im Caux Refuge hilft mir dabei, aber das braucht Zeit. Und die Sprache ist entscheidend.
Haben Sie schon mit dem Französischunterricht begonnen?
Oksana: Ich lerne mit Eliane, unserer Nachbarin, mit einer Gruppe in Clarens und online. Das ist sehr intensiv. Aber mir ist auch klar, dass ich nicht in einem Monat eine neue Sprache lernen kann, nicht in meinem Alter. Aber ich könnte mich um kranke Menschen in Kliniken und zu Hause kümmern, da diese Pflege keine fortgeschrittenen Sprachkenntnisse erfordert. Das ist alles sehr schwierig, aber ich fühle mich trotzdem unterstützt.
Und wie gelingt es Ihnen, in solch schwierigen Zeiten zuversichtlich zu bleiben? Sie sind noch immer so aktiv, positiv und lächeln.
Oksana: Ich glaube, das entspricht sowieso meinem Charakter. Ich würde nicht sagen, dass ich ein schwieriges Leben hatte, und ich bin es gewohnt, mit allem allein fertig zu werden. Ich habe mich früh scheiden lassen und musste mich während der grossen Krise in der Ukraine in den 1990er Jahren um unsere Familie kümmern. Und es ist gut, immer etwas zu tun zu haben. Das ist lebenswichtig, sonst bekommt man mit Sicherheit einen Durchhänger.
Und Liuba, mit der ich nach Caux gereist bin, ist so ein netter Mensch. Freundschaft ist das A und O, wenn es darum geht, harte Zeiten zu überstehen. Es wäre viel schwieriger, wenn ich alleine hier wäre. Mit Liuba kann ich über alles reden, und es ist auch angenehm, mit ihr einfach zu schweigen. Sie ist sehr verständnisvoll und ich wünschte, jeder hätte eine solche Freundin.
Was gibt Ihnen trotz allem Hoffnung für die Zukunft?
Oksana: Wissen Sie, alles verändert sich. Nichts ist von Dauer. Nichts hält ewig. Die Kurve ist so drastisch nach unten gefallen, dass sie irgendwann auch wieder so drastisch nach oben gehen muss! Davon bin ich absolut überzeugt und vertraue darauf.
Über die Autorin
Anastasia Slyvinska ist Journalistin aus Kiew, Ukraine. Sie hat als TV-Moderatorin, Auslandsreporterin und Managerin für Medienunternehmen in der Ukraine und im Ausland gearbeitet. Da sie sowohl im ukrainischen als auch im kanadischen Parlament gearbeitet hat, kombiniert sie ihre Medienerfahrung mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund. Anastasia ist seit 2014 Teil der IofC-Gemeinschaft, als sie zum ersten Mal an der Konferenz Just Governance for Human Security teilnahm. Derzeit hält sie sich in Caux auf.
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Da unsere eigenen Finanzquellen zur Neige gehen, brauchen wir Ihre Hilfe, um das Caux Refuge-Projekt finanziell zu unterstützen. Wir benötigen derzeit noch 20.000 CHF, damit die Gruppe bis Ende 2022 untergebracht werden kann. Mit diesem Betrag werden wir Nahrungsmittel und andere Kosten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Gruppe in der Villa Maria in Caux finanzieren.
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Bitte beachten Sie, dass die in diesen Artikeln geäusserten Meinungen die Ansichten der Befragten widergeben und nicht unbedingt die Meinung des Interviewers, der Interviewerin oder von Initiativen der Veränderung Schweiz widerspiegeln.