"Licht wird die Dunkelheit besiegen"

Ein Caux Refuge-Interview von Anastasia Slyvinska

24/03/2022
Alena and Olena interview Caux Refuge

 

Dieser Artikel ist der erste in einer Reihe von Interviews mit Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind und in der Caux Refuge eine vorübergehende Unterkunft gefunden haben.

 

Am Morgen des 24. Februar wachten Alina Shymanska und ihre Mutter Liudmyla mit der Nachricht auf, dass die russische Armee einen Militärflughafen in ihrer Heimatstadt Zhytomyr/Ukraine nur 10 Kilometer von ihrem Haus entfernt bombardiert hatte.

Dieser Morgen spaltete das Leben vieler Ukrainerinnen und Ukrainer in ein "Vorher" und ein "Nachher". Das schreckliche Geräusch der Luftschutzsirenen wurde zum Vorzeichen für all den Schmerz und das Leid, das folgen sollte und über Nacht wurde Alinas jährliche Bucket List, auf der ihre Träume, Hoffnungen und Ziele standen, völlig nebensächlich.

 

Alena and Olena interview Caux Refuge
Alina (links) und ihre Mutter Liudmyla im Garten des Caux Konferenz- und Seminarzentrums (Foto: Anastasia Slyvinska)

 

Alina ist das perfekte Beispiel für eine neue Generation junger Ukrainerinnen und Ukraine, die die Ukraine nur als unabhängigen souveränen Staat kennen. Bevor der Krieg ausbrach, hatte Alina grosse Pläne für ihr Leben in der Ukraine. Als Mitglied der Professional Government Association of Ukraine und als Jugenddelegierte beim United Network of Young Peacebuilders, beim World Forum for Democracy, beim Yalta European Strategy Forum und bei der UNESCO engagierte sie sich in vielen Bereichen, träumte von einer besseren Zukunft für ihr Land und arbeitete unermüdlich daran, diesen Traum wahr werden zu lassen.

Alinas Engagement in der Ukraine reichte von der Hilfe für Kinder, die unter Mobbing litten, bis hin zur regelmässigen Altkleiderspenden an Bedürftige.

Ihre Überzeugung als junge Führungspersönlichkeit führte dazu, dass sie 2018 als Young Ambassador an den Konferenzen in Caux teilnahm und 2019 beim Caux Scholars Program und der Asia Plateau Initiative mit dabei war. Ihre Teilnahme an verschiedenen IofC-Veranstaltungen prägte ihre zukünftige Arbeit und motivierte sie, sich noch mehr für jene Themen einzusetzen, die ihr am Herzen liegen.

Jetzt haben Alina und ihre Mutter Liudmyla in Caux einen sicheren Ort gefunden, um durchzuatmen und über die nächsten Schritte nachzudenken.

 

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Erzählen Sie uns ein wenig über sich selbst. Welche Anliegen lagen Ihnen in der Ukraine am Herzen?

Alina - Bevor ich die Ukraine verliess, arbeitete ich als Projektmanagerin an der IT-Akademie in Zhytomyr, die eine hochwertige Ausbildung in einem sich schnell entwickelnden IT-Bereich anbietet. Ich fühlte mich dort sehr wohl.

Eine weitere Sache, die mir sehr am Herzen liegt, ist die Organisation einer Gruppe von Freiwilligen, die eine Nichtregierungsorganisation namens "Open Up Initiative" gegründet haben, die talentierten und kreativen Kindern hilft, mit Mobbing, Ungerechtigkeit und Hassreden in der Schule umzugehen. Als Schülerin wurde ich selbst gemobbt, und das half mir, den Schmerz und das Leid zu verstehen, das diese Kinder durchmachen. So wurde diese Initiative geboren. Wir hörten ihnen zu, unterstützten ihre Ideen und Bestrebungen, halfen ihnen, sich zu öffnen, und nahmen sie zu Konferenzen, Foren und Bildungscamps in der ganzen Ukraine mit. Es war für sie eine positive Abwechslung zu ihren negativen Erfahrungen in der Schule und zeigte ihnen neue Wege und Möglichkeiten auf.

 

Sie blieben nach Kriegsausbruch noch einige Tage in Zhytomyr. Was war der ausschlaggebende Punkt, an dem Ihnen klar wurde, dass Sie und Ihre Mutter die Stadt verlassen und sich einen sicheren Ort suchen mussten?

Alina - Am 27. Februar waren wir noch in Zhytomyr. Es war der dritte Tag des Krieges, und die russische Armee warf sechs Bomben auf den Militärflughafen 10 Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Meine Mutter weigerte sich zunächst, das Haus zu verlassen. Ich weinte und bat sie, mit mir zum Bahnhof zu gehen. Ich wusste, dass ich sie nicht in einer solchen Gefahr zurücklassen konnte.

 

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Die Villa Maria, wo das Caux Refuge-Projekt untergebracht ist

 

Liudmyla, Sie hatten also ursprünglich vor, zu Hause zu bleiben und weiter zu arbeiten?

Liudmyla - Ursprünglich wollte ich nicht gehen. Ich sagte meiner Tochter, dass ich mich einfach am Bahnhof verabschieden und zurückbleiben würde. In den ersten beiden Kriegstagen habe ich weiterhin in einem Geschäft in unserer Stadt gearbeitet, und ich hatte vor, das so lange wie möglich zu tun. Viele Geschäfte waren bereits geschlossen, so dass ich das Gefühl hatte, nicht einfach so gehen zu können.

Alina - Ich glaube, viele Menschen glaubten damals nicht, dass der Krieg so lange dauern würde. Meine Mutter dachte an ihr Haus und ihren Garten und wollte nicht weggehen, weil sie dort eine gewisse Stabilität, Arbeit und Eigentum hatte. Sie fragte sich, wer sich um uns kümmern würde, sobald wir die Grenze überschritten hatten. Damals wusste niemand, ob wir Hilfe erhalten würden, schon gar nicht mit so viel Grosszügigkeit und Mitgefühl, wie wir es jetzt in Caux sehen und spüren.

 

Wie haben Sie Ihre Mutter davon überzeugt, mit Ihnen zu gehen?

Alina - Als ich beschloss zu gehen, bestand ich darauf, dass meine Mutter ihren Ausweis mitnehmen sollte, weil wir mehrere Sperren passieren mussten, bevor wir den Bahnhof erreichen konnten. Ursprünglich wollte ich nach Lviv in der Westukraine fahren. Mein Zug wurde wegen der Bombardierung gestrichen, aber es gab die Möglichkeit, einen anderen Zug zu nehmen, der aus Kramatorsk im Osten kam. Später erfuhren wir, dass es sich um einen speziellen Evakuierungszug für Menschen aus Kramatorsk handelte. Wir rannten zum Zug und ich flehte sie an, uns einsteigen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Mutter beschlossen, mit mir bis zur Grenze zu fahren und dann nach Hause zurückzukehren. Bis zum Schluss dachte sie also nicht daran, wirklich zu gehen.

Liudmyla - Eigentlich möchte ich immer noch so schnell wie möglich in mein Haus und mein normales Leben zurückkehren.

 

Wie lange hat es gedauert, bis Sie in der Schweiz angekommen sind?

Alina - Wir haben vier Tage gebraucht. Wir sind über die Grenze in die Slowakische Republik gefahren. Die Menschen dort haben uns sehr geholfen und uns mit Grosszügigkeit und Freundlichkeit behandelt. Sie gaben uns zu essen und einen Platz zum Schlafen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir fast gar nicht geschlafen. Ich war so dankbar, dass ich schlafen konnte. Am 2. März überquerten wir schliesslich die Schweizer Grenze.

 

Was geschah bei Ihrer Ankunft in der Schweiz?

Alina - Bei der Ankunft am Genfer Flughafen wurden wir von einem Polizisten begrüsst, den wir um Hilfe baten, weil wir keine Unterkunft hatten. Wir wurden in ein Flüchtlingslager geschickt und blieben dort, zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen aus der ganzen Welt. Flüchtlinge aus der Ukraine waren neu in der Schweiz, so dass sowohl die Beamtinnen und Beamten als auch die Freiwilligen angesichts der vielen Menschen, die in die Schweiz kamen, ein wenig verwirrt und überfordert waren. Es war eine schwierige Erfahrung. Wir sassen stundenlang auf einer Bank und warteten darauf, dass jemand mit unseren Dokumenten zurückkam. Dann wies man uns Betten in einem Zimmer zu, das wir mit zehn anderen Menschen aus Afghanistan, Bosnien und Herzegowina und Somalia teilten, die ebenfalls auf Asyl hofften. Von dort schickte man uns bald in ein anderes Lager nahe der Grenze zu Österreich und Liechtenstein, wo wir weitere fünf oder sechs Tage verbrachten. Es war eine lange Reise, bis wir nach Caux kamen.

 

Alena and Olena interview Caux Refuge
Alina und ihre Mutter in der Villa Maria (Foto: Anastasia Slyvinska)

 

Jetzt, wo Sie schon einige Tage in Caux sind, was sind Ihre ersten Eindrücke? Haben Sie schon Leute von IofC und dem Dorf Caux getroffen?

Alina - Ja, während meiner ersten Tage hier habe ich die meisten Leute aus dem Dorf kennengelernt, als sie uns besuchten, um uns zu begrüssen. Ich bin allen Mitgliedern der wunderbaren IofC- und Caux-Gemeinschaft so dankbar, dass sie alles Notwendige mitgebracht haben - Hygieneartikel, Medikamente, Kleidung und Lebensmittel. Sie waren sehr grosszügig.

Liudmyla - Als wir unsere Heimatstadt verliessen, konnten wir kein Geld abheben. Es gab kein Bargeld in den Geldautomaten, und die Leute bekamen ihr Gehalt nicht. Wir mussten mit fast nichts gehen. Ich hatte nur eine Tasche dabei, während Alina nur ein kleines Gepäckstück dabei hatte. Es war sehr bewegend, all diese grosszügigen Spenden zu sehen.

 

Wie fühlen Sie sich jetzt, da Sie einen sicheren Ort gefunden haben, an dem Sie bleiben können?

Alina - Ich fühle mich endlich sicherer, aber ich bin sehr unsicher, was die Zukunft angeht. Deshalb fühle ich mich immer noch nicht zu 100 % sicher. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich mit meiner Familie und meinem Freundeskreis, die noch in der Ukraine sind, in Kontakt stehe. Durch diesen engen Kontakt habe ich das Gefühl, bei ihnen zu sein, auch wenn wir diese schreckliche Erfahrung jetzt von einem sicheren Ort aus durchleben. Zurück in der Ukraine fehlt es den Menschen oft an Lebensmitteln und lebensnotwendigen Dingen, so dass ich mich auch schuldig fühle. Ich höre oft, wie wichtig es ist, für sich selbst zu sorgen, aber es ist schwer, für sich selbst zu sorgen, wenn man weiss, dass Menschen sterben, dass Kinder sterben.

 

Ist der Rest Ihrer Familie in Sicherheit? Wie geht es ihnen?

Alina - Mein Vater, mein Bruder und viele aus meinem Freundeskreis sind noch in der Ukraine. Leider sind viele Mitglieder meiner Familie jetzt über ganz Europa verstreut, mit Ausnahme meines Vaters und meines Bruders, die unser Land beim Militär beschützen. Meiner Meinung nach erhält unser Militär nicht genug Unterstützung. Ich frage mich, wie die humanitären Konvois die Bedürftigen erreichen werden, nachdem die Brücke von Tschernihiw nach Kiew zerstört wurde.

 

Woher nehmen Sie die Kraft und Hoffnung, um in solch schwierigen Zeiten weiterzumachen?

Alina - Aus dem Gebet. Es hilft mir sehr, wenn ich bete, es gibt mir Hoffnung und Trost. Es ist sehr wichtig, für das Geschenk des Lebens dankbar zu sein und die kleinen Dinge zu sehen, die wichtig sind, wie das Atmen, das Sehen, das Gehen, das Berühren der Erde mit den Füssen, den Vögeln am Morgen zuzuhören. All diese kleinen Dinge sind sehr wichtig. In solchen Momenten des Gebets und durch die Wertschätzung der kleinen Dinge des Lebens glaube ich, dass das Licht die Dunkelheit besiegen wird!

 

Über die Autorin

Anastasia Slyvinska

Anastasia Slyvinska ist Journalistin aus Kiew, Ukraine. Sie hat als TV-Moderatorin, Auslandsreporterin und Managerin für Medienunternehmen in der Ukraine und im Ausland gearbeitet. Da sie sowohl im ukrainischen als auch im kanadischen Parlament gearbeitet hat, kombiniert sie ihre Medienerfahrung mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund. Anastasia ist seit 2014 Teil der IofC-Gemeinschaft, als sie zum ersten Mal an der Konferenz Just Governance for Human Security teilnahm. Sie lebt derzeit in Lausanne (Schweiz).

 

 

 

 

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IHRE HILFE ZÄHLT!

Da unsere eigenen Finanzquellen zur Neige gehen, brauchen wir Ihre Hilfe, um das Caux Refuge-Projekt finanziell zu unterstützen. Wir benötigen derzeit noch 20.000 CHF, damit die Gruppe bis Ende 2022 untergebracht werden kann. Mit diesem Betrag werden wir Nahrungsmittel und andere Kosten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Gruppe in der Villa Maria in Caux finanzieren.

Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung. Bitte helfen Sie uns und geben Sie bei Ihrer Spende "Caux Refuge" als Verwendungszweck an. Sollten Sie Vorschläge oder Fragen haben, können Sie uns gerne per Email kontaktieren.

 

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Bitte beachten Sie, dass die in diesen Artikeln geäusserten Meinungen die Ansichten der Befragten widergeben und nicht unbedingt die Meinung des Interviewers, der Interviewerin oder von Initiativen der Veränderung Schweiz widerspiegeln.

 

 

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