"Scheinbar kleine Dinge können im Leben eines Menschen viel Gutes bewirken."
Ein Caux Refuge-Interview von Anastasia Slyvinska
29/07/2022
Dieser Artikel ist das sechste Interview in einer Reihe von Gesprächen mit Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind und in der Caux Refuge in der Schweiz eine vorübergehende Unterkunft gefunden haben.
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Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben Millionen von Vertriebenen ihre Häuser verlassen, um einen sicheren Ort zu finden. Als Sofortmassnahme öffnete Initiativen der Veränderung Schweiz die Türen des Caux Konferenz- und Seminarzentrums, um den vom Krieg betroffenen Menschen Zuflucht und Schutz zu bieten.
Die Caux Refuge befindet sich in der Villa Maria, direkt neben dem Caux Palace. Sie bietet derzeit Platz für bis zu 30 Personen und Initiativen der Veränderung Schweiz arbeitet eng mit den lokalen Behörden zusammen.
Ekaterina Gross arbeitet seit April 2022 als Liaison Officer im Caux Refuge-Projekt und teilt sich die Stelle mit einer Kollegin. Hier reflektiert sie über ihre Aufgabe, bei der es darum geht, die Bewohnerinnen und Bewohner der Caux Refuge in ihrem neuen Leben in der Schweiz zu unterstützen und sie spricht darüber, was diese Zeit für sie bedeutet.
Ekaterina, Sie arbeiten seit drei Monaten für IofC Schweiz. Warum wollten Sie Teil des IofC-Teams werden, das Menschen hilft, die aus der Ukraine fliehen mussten?
Ekaterina: Da ich halb Ukrainerin und halb Russin bin, betraf mich der Krieg in der Ukraine direkt. Nach Kriegsausbruch habe ich mich freiwillig gemeldet, um Menschen aus der Ukraine in Genf zu helfen, wo ich lebe. Ich lernte Menschen kennen und half ihnen, eine Unterkunft bei einheimischen Familien zu finden. Irgendwann sah ich, dass IofC Schweiz ein bzw. eine Liaison Officer suchte und beschloss, dem Team beizutreten. Ich hatte das Interview mit Alina und ihrer Mutter Lyudmyla gelesen und ihre Geschichte hatte mich sehr berührt. Das war einer der Gründe, warum ich mich beworben habe. Ausserdem liegen mir die Werte und den Ansatz von IofC Schweiz am Herzen, so dass es für mich einfach logisch war, Teil des Teams zu werden.
Wie sind Sie zur Sozialarbeit gekommen? Wussten Sie schon immer, dass Sie Menschen helfen wollten?
Ekaterina: Ich habe bereits zuvor in diesem Bereich gearbeitet, bei einer Non-Profit-Organisation, die mit einem Zentrum für jugendliche Flüchtlinge aus Eritrea und Afghanistan hier in der Schweiz zusammenarbeitet. Ich war für ein Projekt verantwortlich, das darauf abzielte, sie in die lokale Gesellschaft zu integrieren. Wir organisierten Treffen mit Einheimischen und Jugendlichen. Ich organisierte auch Veranstaltungen, bei denen sie ihre Kultur vorstellen konnten.
Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig die Integration für Menschen ist, die nicht freiwillig in ein Land gezogen sind, sondern ihre Heimat verlassen mussten. Gerade am Anfang ist die Integration entscheidend, damit sie die Kultur, die Bräuche und die Gesetze des Landes, in das sie gezogen sind, verstehen. Gleichzeitig sind diese Veranstaltungen auch für die Einheimischen wichtig, damit sie keine Angst vor der Begegnung mit neu angekommenen Flüchtlingen haben. Ja, diese Menschen haben schwierige Zeiten hinter sich, aber sie sind jetzt hier und bereit, sich zu integrieren.
Durch welche Erfahrung wurde Ihnen klar, dass diese Arbeit Ihre Berufung ist?
Ekaterina: Das war mein erster Job und er hat mir gezeigt, wie scheinbar kleine Dinge viel Gutes im Leben eines Menschen bewirken können. Mir wurde klar, dass ich eine Leidenschaft für diese Arbeit habe. Menschen zu motivieren, ihr Leben zu verbessern, indem ich meine eigenen Erfahrungen darüber weitergebe, wie ich in die Schweiz gekommen bin und mein Leben hier gestaltet habe, geben meiner Arbeit einen Sinn. In den letzten zehn Jahren habe ich im kommerziellen Bereich gearbeitet, aber letztes Jahr habe ich angefangen, darüber nachzudenken, erneut für gemeinnützige Organisationen zu arbeiten, bei denen ich meine Karriere begonnen habe.
Was war der Wendepunkt?
Ekaterina: Eigentlich war es eine schwierige Situation in meiner eigenen Familie, bevor der Krieg in der Ukraine begann. Damals haben mir Sozialarbeiter geholfen. Manchmal war es nur ein einfaches Gespräch, bei dem sie mir zuhörten, mir bei der Erledigung von Papierkram halfen und mir einen Rat gaben. Wenn man sich in einer solchen Situation befindet, hat man nicht wirklich die Energie, sich damit zu beschäftigen. Da habe ich mir gedacht, dass ich für andere Menschen auch so ein Mensch werden möchte und wieder in die Sozialarbeit zurückkehren will.
Was macht die Erfahrung bei IofC Schweiz für Sie so besonders?
Ekaterina: Ich bin mit 20 Jahren zum Studium allein in die Schweiz gekommen. In diesen 12 Jahren hatte ich das grosse Glück, von freundlichen und einfühlsamen Menschen umgeben zu sein. Manchmal konnte ich nicht verstehen, warum sie sich für mich interessierten und mir Aufmerksamkeit schenkten – sie waren ja nicht meine Verwandten oder Freunde. Es war nicht immer einfach, aber ich habe viel gelernt und kann etwas von dem Wissen, das ich erworben habe, an diejenigen weitergeben, die die Ukraine wegen des Krieges verlassen haben.
Natürlich war es meine eigene Entscheidung, in die Schweiz zu ziehen. Ich erlebe, wie viel schwieriger es für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist. Sie haben es sich nicht ausgesucht, ihr Heimatland zu verlassen. Sie sind nicht aus Bequemlichkeit hierher gekommen. Sie kamen ins Ungewisse, wussten nicht, was sie erwartet und haben nicht die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Es ist so wichtig für mich zu zeigen, dass sie, wenn sie den Willen und die Geduld haben, ihren Platz in der Schweizer Gesellschaft finden und sich ein komfortables Leben aufbauen können.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit den Ukrainerinnen und Ukrainern in Caux?
Ekaterina: Natürlich. Das war unten in der Villa Maria. Um ehrlich zu sein, hatte ich etwas Angst. Als ich anfing, in Genf Freiwilligenarbeit zu leisten, waren die meisten Menschen, mit denen ich arbeitete, Mütter mit kleinen Kindern. Sie waren völlig verloren und hatten keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollten oder wie alles hier in der Schweiz funktioniert. Ich spürte ihren Schmerz, ihr Gefühl der Leere. Als ich das erste Mal in Caux ankam, hatte ich Angst, weil ich nicht wusste, ob ich es emotional schaffen würde.
Das war also tatsächlich eine emotionale Erfahrung für Sie?
Ekaterina: Ja, obwohl ich durch meine früheren Erfahrungen gelernt habe, berufliche Verantwortung und Emotionen zu trennen. Aber wenn einem Menschen kulturell und geistig so nahestehen, ist das viel schwieriger. Deshalb hatte ich Angst, dass ich nicht in der Lage sein würde, damit umzugehen. Es ist eine Herausforderung, sich in den Schmerz anderer einzufühlen und ihnen wirklich zu helfen. Aber als ich alle kennenlernte, verschwand diese Angst und wurde durch das Gefühl ersetzt, dass ich zu Hause bin, umgeben von Familie.
Hat Sie die Zeit hier in Caux in irgendeiner Weise verändert?
Ekaterina: Ja, denn mit IofC Schweiz und den Ukrainerinnen und Ukrainern fühle ich mich wie in einer Familie. Ich stamme aus einer sehr grossen Familie und die Atmosphäre in Caux erinnert mich daran. Es gibt Liebe und Fürsorge, aber wir können einige Missverständnisse und kleinere Konflikte nicht vermeiden. Ich bin auch verantwortungsbewusster geworden, weil ich gesehen habe, wie kleine freundliche Taten oder der Rat, die Grenzen der Schweizer Sitten nicht zu überschreiten, das Leben eines Menschen wirklich beeinflussen können. Das Gefühl, wertgeschätzt zu werden und etwas Sinnvolles zu tun, ist eine wirklich prägende Erfahrung.
Was ist im Moment die grösste Herausforderung bei Ihrer Arbeit?
Ekaterina: Wissen Sie, ich fühle mich so sehr am richtigen Platz wie schon lange nicht mehr. Aber genug Zeit für die ganze Verwaltungsarbeit zu haben, das ist eine Herausforderung! (lacht)
Und was ist am lohnendsten?
Ekaterina: Wenn ich sehe, dass alle ihre Energien in etwas Produktives stecken. Wenn jemand hier in der Schweiz einen Job findet, ein kleines Projekt, eine Bildungsaktivität wie Französischkurse oder sogar ein neues Hobby, ist das sehr inspirierend. Und es ist erstaunlich zu sehen, wie die Leute anfangen zu lächeln, zu kommunizieren und Freundschaften mit Einheimischen in Caux zu schliessen. Das ist eine enorme Veränderung in einer so kurzen Zeit. Ich könnte mir nicht mehr wünschen.
Über die Autorin
Anastasia Slyvinska ist Journalistin aus Kiew, Ukraine. Sie hat als TV-Moderatorin, Auslandsreporterin und Managerin für Medienunternehmen in der Ukraine und im Ausland gearbeitet. Da sie sowohl im ukrainischen als auch im kanadischen Parlament gearbeitet hat, kombiniert sie ihre Medienerfahrung mit ihrem politikwissenschaftlichen Hintergrund. Anastasia ist seit 2014 Teil der IofC-Gemeinschaft, als sie zum ersten Mal an der Konferenz Just Governance for Human Security teilnahm. Derzeit hält sie sich in Caux auf.
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IHRE HILFE ZÄHLT!
Da unsere eigenen Finanzquellen zur Neige gehen, brauchen wir Ihre Hilfe, um das Caux Refuge-Projekt finanziell zu unterstützen. Wir benötigen derzeit noch 20.000 CHF, damit die Gruppe bis Ende 2022 untergebracht werden kann. Mit diesem Betrag werden wir Nahrungsmittel und andere Kosten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Gruppe in der Villa Maria in Caux finanzieren.
Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung. Bitte helfen Sie uns und geben Sie bei Ihrer Spende "Caux Refuge" als Verwendungszweck an. Sollten Sie Vorschläge oder Fragen haben, können Sie uns gerne per Email kontaktieren.
Bitte beachten Sie, dass die in diesen Artikeln geäusserten Meinungen die Ansichten der Befragten widergeben und nicht unbedingt die Meinung des Interviewers, der Interviewerin oder von Initiativen der Veränderung Schweiz widerspiegeln.
Foto oben: Corinne J.