1978: Heinz und Gisela Krieg – Zum Beispiel Deutschland
Von Monica und Folker Mittag
22/07/2021
Unter den 450 Personen, die an der Winterkonferenz 1978/1979 in Caux teilnahmen, befand sich eine grosse Gruppe aus Deutschland. Sie war dort, um ein ungewöhnliches Theaterstück, Zum Beispiel Deutschland, aufzuführen, das von Gisela und Heinz Krieg verfasst worden war.
Bei einem früheren Besuch in Caux hatten Heinz, ein Künstler und Lehrer, und Gisela, eine ehemalige Schauspielerin, junge Deutsche getroffen, welche die Geschichte ihres Landes nicht akzeptieren konnten und sich selbst eher als Europäerinnen und Europäer denn als Deutsche bezeichneten.
Gisela begann, ein Bühnenstück mit Beispielen aus der deutschen Geschichte zu schreiben, auf das die jungen Leute stolz sein konnten. Sie fügte einige pointierte Verse über deutsche Stereotypen hinzu: der Bürokrat, der nur die Regeln befolgt; die Touristin, die mit ihrem Handtuch den besten Platz am Meer ergattert und einige mehr. Heinz bastelte schöne Masken für sie.
Das Stück wurde 1977 und 1978 in Caux, 1978 in Berlin und Freudenstadt und, mit französischer Übersetzung, 1979 in Orléans aufgeführt. Keiner der Schauspielerinnen und Schauspieler war Profi.
Jede Aufführung war ein Wunder, denn es gab nie genug Zeit zum Proben. Viele der Schauspielerinnen und Schauspieler und das Publikum fanden ein neues Verständnis für Deutschland und seine Vergangenheit - und eine Hoffnung für seine Zukunft.
Ein zweites Stück, Der Zug, das 1983 in Caux aufgeführt wurde, ging noch einen Schritt weiter - von der Selbstaufarbeitung zur Versöhnung mit anderen.
Heinz hatte in seinem Leben eine erstaunliche Reise hinter sich. Als Junge war er ein überzeugtes Mitglied der NS-Jugendorganisation gewesen. Er hatte an der russischen Front gekämpft und war schwer verwundet worden. Als er 1949 zum ersten Mal nach Caux kam, hatte sich seine Weltanschauung bereits verändert und er engagierte sich für den Aufbau einer Welt des Friedens und der Gerechtigkeit, in der die Bedürfnisse aller erfüllt werden, ohne darauf zu bestehen, die eigene Gier zu befriedigen.
Wir liessen beide unseren Hass los.
Es erschütterte ihn zutiefst, als er in Caux hörte, wie sich ein junger Tscheche jüdischer Herkunft für seinen Hass auf die Deutschen entschuldigte. Er war vor dem Krieg in die USA geflohen, hatte in der US-Armee gekämpft und ein Bein verloren. Heinz war am Ende des Krieges in Prag gewesen. Nach dem Treffen unterhielten sich die beiden Männer. "Er hörte sich alles an, was ich über die Rache der Tschechen an den Deutschen erwähnte," sagte Heinz. "Wir liessen beide unseren Hass los."
Dies war die erste von vielen Begegnungen. Jahre später, bei einem Abend mit jüdischen Freunden in Berlin, hatte Heinz das Gefühl, erklären zu müssen, dass er nicht, wie sie annahmen, Antifaschist gewesen war. "Es herrschte absolute Stille, als ich sagte, wie sehr ich das Leid bereute, das sie wegen der Gleichgültigkeit und Blindheit von Leuten wie mir durchgemacht hatten. Dann sagte einer von ihnen: Das ist die Grundlage für unsere Freundschaft." Später, als Heinz im Altersheim war, besuchte er die örtlichen Schulen, um den Kindern aus seinem Leben, dem Geheimnis und Empfangen der Vergebung zu erzählen.
Später, als Heinz im Altersheim war, besuchte er die örtlichen Schulen, um den Kindern aus seinem Leben, dem Geheimnis und Empfangen der Vergebung zu erzählen.
Menschen aus aller Welt gingen im Haus der Kriegs in Berlin ein und aus, wo die Besucherinnen und Besucher erlebten, was es in den Tagen des Kalten Krieges bedeutete, in einer geteilten Stadt zu wohnen. Ein fester Bestandteil waren die Dienstagstreffen. Viele Jahre lang kamen bis zu 25 Leute zusammen, um Giselas leckere Suppe zu geniessen und dann gemeinsam Zeit in Stille zu verbringen, ihre Gedanken auszutauschen, Freundschaften zu schliessen und zu beten.
Als eines ihrer fünf Kinder anfing, Drogen zu nehmen, half Gisela, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, in der Eltern von Süchtigen sich gegenseitig unterstützen und voneinander lernen konnten. "Damals fühlten sich die Eltern von Süchtigen isoliert," sagt Gisela. "Jahrelang brannte die Suppe an, während ich am Telefon mit den Eltern sprach." Es entstand ein Netzwerk von Gruppen in ganz Westdeutschland, und Gisela und zwei ihrer Kolleginnen und Kollegen wurden für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Als Heinz sich aus dem Schuldienst zurückzog, gab auch Gisela ihren vielseitigen ehrenamtlichen Einsatz auf. Sie konnten nun gemeinsam reisen, unter anderem in das Konferenzzentrum von Initiativen der Veränderung in Indien, wo sie vom Podium aus mit einem französischen Ehepaar darüber sprachen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg Brücken zwischen den beiden Ländern gebaut worden waren.
Klicken Sie hier, um das Interview von Hanno Krieg mit seinem Vater über dessen Leben zu sehen: Life Was Suddenly More Beautiful.
Lesen Sie mehr über Heinz und Gisela Krieg in One Family's Berlin
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Andrew Stallybrass schreibt:
Die deutsche Sprache und Deutschland waren zwei grosse Leidenschaften meines Vaters. Bill Stallybrass studierte vor dem Krieg in Deutschland und zog ernsthaft den Selbstmord in Betracht, als der Krieg zwischen seinem Land, Grossbritannien, und Deutschland ausbrach. Er konnte sich nicht vorstellen, gegen das Volk, das er liebte, kämpfen zu müssen. Freunde der Moralischen Aufrüstung (heute Initiativen der Veränderung) halfen ihm zu erkennen, dass im Faschismus ein Übel steckte, das bekämpft werden musste, dass er aber die Deutschen nicht zu hassen brauchte. Also nutzte er seine Sprachkenntnisse im militärischen Geheimdienst.
1983 übernahm er eine Rolle bei einer Aufführung von Heinz und Gisela Kriegs Theaterstück Der Zug in Caux. Er schrieb: "Ich konnte mich nicht mit meiner Rolle eines ehemaligen RAF-Piloten identifizieren, der am Angriff auf Dresden teilgenommen hatte und (im Zug) mit einem deutschen Mädchen konfrontiert wurde, dessen Grossmutter den Angriff überlebt und einen tiefen Hass auf alle Briten und Amerikaner beibehalten hatte."
Dank der Atmosphäre, die durch die Kriegs geschaffen wurde, erlebten wir Versöhnung zwischen Menschen aus Österreich und Italien, Deutschland und Grossbritannien, Amerika und Deutschland, Deutschland und der Schweiz.
Bei einer Mahlzeit traf er Heinz und seine Schwester Hannelore, die beim Stück Regie führte. "Ich sprach frei über die Vergangenheit, über den Tod meines Vaters und über die Schuld, die ich immer noch über den Selbstmord von zweien meiner vier Brüder in mir trug, die ich alle in ihrer Stunde der Not im Stich gelassen hatte. Ich verliess den Tisch mit neuer Hoffnung und erlebte am nächsten Morgen ein Gefühl der Vergebung und der Freiheit, das im Laufe der Jahre noch gewachsen ist.
Da wir aus zehn verschiedenen Nationen kamen, war es für uns Laienschauspielerinnen und -schauspieler nicht immer leicht, miteinander auszukommen. Aber dank der Atmosphäre, die durch die Kriegs geschaffen wurde, erlebten wir Versöhnung zwischen Menschen aus Österreich und Italien, Deutschland und Grossbritannien, Amerika und Deutschland, Deutschland und der Schweiz."
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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Einzelpersonen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zhgeib. weiter. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.
- Fotos: Initiativen der Veränderung (ausser der Karikatur, Foto im Garten und Löwenwelpe)
- Foto im Garten: Ivo Krieg
- Karikatur: Monica und Folker Mittag
- Löwenwelpe (erster von links in der Puppengalerie): Monica und Folker Mittag
- Korrekturlesung: Maya Fiaux