1970: Karl Mitterdorfer – "Gewalt ist keine Lösung."

Von Mary Lean

23/06/2021
Karl Mitterdorfer square dredit: Danielle Maillefer

 

Karl Mitterdorfer square dredit: Danielle Maillefer

Ein Teil der Magie von Caux besteht in der Chance für Menschen aus Konfliktgebieten auf der ganzen Welt, voneinander zu lernen. Im Sommer 1970 fanden Treffen zwischen Gruppen aus Nordirland und Südtirol statt, einer deutschsprachigen Provinz Italiens, in der es in den 1960er Jahren durch kommunale Spannungen zu Gewaltausbrüchen gekommen war. Angesichts des Konfliktes, der in ihrem eigenen Land eskalierte, waren die Nordiren daran interessiert, von Südtirols Weg der Versöhnung zu lernen.

Die Unruhen im Südtirol hatten 1919 begonnen, als die Region nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie an Italien abgetreten worden war. Die Spannungen verschärften sich unter dem italienischen Faschismus. Obwohl eine UN-Resolution 1946 die regionale Autonomie der Provinz beschlossen hatte, wurde diese nicht umgesetzt.

1961 sprengten deutschsprachige Sezessionisten 37 Strommasten in die Luft und unterbrachen damit die Stromversorgung im Industriegebiet der Provinz. Zum Ende der 1960er Jahre hatten die Unruhen 21 Menschenleben gekostet.

 

South Tyrol Oneway
Strassenschild in Südtirol auf Italienisch und Deutsch

 

Im Jahr 1968 kamen auf Einladung von Heini Karrer, einem der Schweizer Verantwortlichen für das Konferenzzentrum in Caux, zwei Gruppen deutsch- und italienischsprachiger Politiker nach Caux. Dort trafen sie Menschen, die sich mit noch schwierigeren Situation wie der ihren konfrontiert sahen. Wie Karl Mitterdorfer, südtirolischer Abgeordneter im italienischen Parlament, erklärte, erkannten sie, "dass wir, wenn wir unsere Probleme effektiv lösen, ein Beispiel für all jene in der Welt werden könnten, die mit Problemen zu kämpfen haben, die unendlich viel komplexer sind als die unsrigen."

Wenn wir unsere Probleme effektiv lösen, könnten wir ein Beispiel für all jene in der Welt, die mit Problemen zu kämpfen haben, die unendlich viel komplexer sind als die unsrigen.

Die Beziehung zwischen den Politikern veränderte sich und dies hatte Auswirkungen auf die Atmosphäre in der Heimat. In jenem November stimmte die Partei Mitterdorfers, welche die deutschsprachige Gemeinschaft vertrat, den Lösungsvorschlägen der italienischen Regierung zu. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: "Seit dem Sommer ist kein Blut mehr geflossen. Es scheint, als ob eine turbulente Periode von 10 Jahren zu Ende gegangen sei."

 

 Philippe Lasserre, Albert Dassie, Karl Mitterdorfer 1972
Karl Mitterdorfer (rechts) in Caux mit Philippe Lasserre (links) und Albert Dassie (Mitte), 1972

 

Die Treffen im Sommer 1970 in Caux waren das Ergebnis eines Besuchs Mitterdorfers und seines Parteikollegen Peter Brugger in Nordirland Anfang des Jahres. Sie hatten dort bei einer öffentlichen Versammlung das Wort ergriffen, an der Mitglieder der Regierung und der Opposition, katholische und protestantische Geistliche sowie Menschen teilnahmen, die auf den gegenüber liegenden Seiten der Barrikaden gestanden hatten.

"Gewalt ist keine Lösung", sagte Mitterdorfer. "In unserem Fall löste die Gewalt Gegengewalt aus und führte zu einer fatalen Spirale. Allein können auch die besten Gesetze keine Probleme lösen. Ein neuer Geist ist nötig."

 

Karl Mitterdorfer Brugger in Northern Ireland 1970
Karl Mitterdorfer (links) und Paul Brugger in Belfast, 1970

 

Mitterdorfer und Brugger waren sich politisch uneins und ihre erbitterten Auseinandersetzungen drohten die Partei zu spalten. Mitterdorfer erzählte, wie er in Caux gemerkt hatte, dass er auf Kollegen neidisch war, die er für erfolgreicher und fähiger als sich selbst hielt.

"Nach langem Überlegen und einigen Ausflüchten habe ich mich bei Senator Brugger entschuldigt. Ich möchte solche persönliche Schritte wie diesen nicht überbewerten. Aber ich weiss, dass eine neue Dimension in unsere Beziehung gekommen ist. Das mag dazu beigetragen haben, die Einheit unserer Partei zu bewahren, die für unsere Beziehungen zur italienischen Regierung unerlässlich ist."

 

Kardinal Franz König, Karl Mitterdorfer 1979
Mit Kardinal Franz König, Caux 1979

 

Es dauerte 32 Jahre mit weiteren Verhandlungen und Gesetzen, bis das Abkommen 1992 endlich umgesetzt wurde. "Zweiunddreissig Jahre Verhandlungen für einen 70 Jahre alten Konflikt!" kommentierte das Journal de Genève. "Es ist nicht übertrieben, von einem 'historischen Abkommen' zu sprechen."

Mitterdorfer, der früher Violinist und nicht Politiker werden wollte, war nur einer von vielen, die an diesem Abkommen mitgewirkt haben. "Es ging nicht darum, auf unsere Rechte zu verzichten," sagte er in Belfast, "sondern in eine Verantwortung hineinzuwachsen, die über unsere eigenen Interessen hinausgeht."

Allein können auch die besten Gesetze keine Probleme lösen. Ein neuer Geist ist nötig.

 

Image
Karl Mitterdorfer (zweiter von links) in Caux mit anderen europäischen Parlamentariern: Albert Dassie (Frankreich), Adolf Scheu (Deutschland)
und Johannes Østtveit (Norwegen)

 

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Christine Karrer Cross (Schweiz/USA) schreibt:

Zwischen 1967 und 1973 lebten meine Eltern und ich in Wien, Österreich. Als wir ankamen, fragte mein Vater, Heini Karrer, den damaligen österreichischen Bundeskanzler, wie er und meine Mutter dem Land am besten helfen könnten. Der Kanzler sagte ihnen, dass die grösste Sorge der österreichischen Regierung der Konflikt in Südtirol sei. Mein schüchterner Vater beschloss, dorthin zu gehen, ohne jemanden zu kennen. Er wohnte in einem Hotel und begann, die Leitenden beider Seiten zu treffen.

Mein Vater besuchte Südtirol mindestens 15 Mal, manchmal zusammen mit meiner Mutter. Bei einem dieser Besuche bemerkte Karl Mitterdorfer, dass sie in einem Hotel wohnten und lud sie ein, in seinem Haus zu wohnen, wann immer sie kamen. Nach dem Tod meines Vaters schrieb Mitterdorfer an meine Mutter und drückte seine tiefe Dankbarkeit für den Beitrag meines Vaters zum Frieden aus.

 

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Hören Sie Karl Mitterdorfer und andere italienische Politiker über die Situation in Südtirol und sein Treffen in Caux mit dem nordirischen Politiker Jerry O'Neil in dem Film Crossroad of Nations (1971) (4"00' - 8"15')

 

 

Entdecken Sie den Film Südtirol aus unseren Archiven über die Situation in Südtirol (nur auf Deutsch). Alle Protagonisten haben Caux besucht.

 

 

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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Menschen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zhgeib. weiter. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.

 

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