1951 - Maurice Mercier:"Kein Schrei des Hasses"
Von Eliane Stallybrass
15/03/2021
Der Schweizer Jean-Jacques Odier war nicht sonderlich beeindruckt, als er Maurice Mercier, den Mann hinter den grossen französischen Industriedelegationen, die 1951 Caux besuchten, zum ersten Mal traf. “Er sah eher wie ein Barmann hinter seiner Theke an der nächsten Strassenecke aus", schrieb Odier über ihr Treffen in den Büros des französischen Textilarbeiterverbands 'Force Ouvrière'. "Aber als wir ihn in den folgenden Wochen besser kennenlernten, entdeckten wir einen aussergewöhnlichen Menschen." *
Seit er 13 Jahr alt war, arbeitete Maurice Mercier in der Textilindustrie, wo er in dem französischen Gewerkschaftsbund "CGT" Karriere machte. Mercier war überzeugter Kommunist und während des 2. Weltkriegs ein mutiges Mitglied des Widerstands. Als der Krieg zu Ende war, hatte er das Gefühl, die Gewerkschaft stelle Politik über den Kampf für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter. Er verliess daraufhin die Gewerkschaft, vermisste aber die Kameradschaft des gemeinsamen Kampfes und die Ideologie, die ihn angetrieben hatte.
Als Jean-Jacques Odier, der Sohn eines Genfer Bankiers und vollzeitlicher Mitarbeiter bei Initiativen der Veränderung (damals als "Moralische Aufrüstung" bekannt), und sein britischer Freund Bill Porter Mercier 1950 trafen, war dieser zynisch und entmutigt. Sie waren jedoch beeindruckte, wie schnell er die Idee einer Veränderung des eigenen Verhaltens verinnerlichte und wieviel kreative Energie in ihm steckte, die über den Klassenkampfes hinausging. Bei einem Besuch in Caux in jenem Sommer sagte er: "Kein einziger Schrei des Hasses, keine einzige verlorene Arbeitsstunde, kein einziger vergossener Tropfen Blut: das ist die Revolution, zu der die Moralische Aufrüstung (MRA) Arbeitgebende und Arbeiterschaft herausfordert.”
In ihm steckte das Wahrzeichen aller wahren Revolutionärinnen und Revolutionäre - eine Vision! Und er half auch mir dabei, eine Vision zu finden.
Odier und Porter luden Mercier ein, im Juni 1951 an einer MRA-Konferenz in Mackinac Island in den Vereinigten Staaten teilzunehmen. Sie dachten, dass dies seinen Horizont erweitern könnte, hatten jedoch keine Ahnung, wie schwer es sein würde, ein Visum für einen Gewerkschaftler zu bekommen, der zudem 11 Jahre lang als heimlicher Kommunist agiert hatte. Schliesslich klappte es doch und Mercier traf den Gründer der MRA, Frank Buchman, bei der Konferenz.
Ein lutherischer Pfarrer aus Pennsylvania, der kein Französisch sprach, und ein französischer Arbeiter, der seinen Kontinent nie verlassen hatte – es war eine seltsame Begegnung zweier sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten. Buchman sah den Menschen, der sich hinter dem militanten Atheisten verbarg, Mercier den Revolutionär in dem überzeugten Christen. Mercier sagte über Buchman: "In ihm steckte das Wahrzeichen aller wahren Revolutionärinnen und Revolutionäre - eine Vision! Und er half auch mir dabei, eine Vision zu finden.”
Inspiriert von den Delegationen der amerikanischen Unternehmen, die er in Mackinac getroffen hatte, beschloss Mercier, sich bei seiner Rückkehr nach Europa für ähnliche Treffen in Caux einzusetzen. Er reiste durch ganz Nordfrankreich, um Arbeiterinnen und Arbeiter zu ermutigen, nach Caux zu kommen und ihre Geschäftsleitung zu überreden, die Reise zu finanzieren. Die Konferenzen in Caux wurden in diesem Jahr erweitert, um diese Delegationen zu empfangen zu können und im Herbst 1951 schickten 80 französische Unternehmen, hauptsächlich aus der Textilindustrie, Delegationen in die Schweiz.
Ein Textilindustrieller erklärte: "Ich sah ein, dass ich mein Unternehmen wie mein persönliches Eigentum behandelte. Es schien mir völlig normal zu sein, dass Arbeiterinnen bzw. Arbeiter Besorgungen für mich machen mussten, mir Kohle aus der Fabrik holten, um mein Haus zu heizen.... Ich beschloss, meine Lebensweise komplett zu ändern."
Eine Atmosphäre des Vertrauens entstand.
Ein Maschinenarbeiter sagte: "Ich dachte, die Bourgeoisie und die Bosse seien arrogant und böse und dächten nur daran, das Proletariat zu beherrschen und uns klein zu halten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie die Barriere zwischen uns überwinden und daran arbeiten könnten, um eine neue Welt aufzubauen."
“Eine Atmosphäre des Vertrauens entstand", kommentierte Mercier die Situation. Dies führte 1953 zu einem branchenweiten Abkommen, welches die Arbeitsbedingungen und die Beziehungen in der Textilindustrie Frankreichs mit 7.000 Fabriken und 648.000 Angestellten verändern sollte.
Hören Sie Maurice Merciers Ansprache in Caux 1958
Sehen Sie ein Interview mit Maurice Mercier aus dem Jahr 1971 (17'09 - 18'40)
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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Einzelpersonen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zhgeib. weiter. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.
- * Aus: Jean-Jacques Odier, "Nous rêvions de changer le monde" (Editions Ouverture)
- ** damals bekannt als Moralische Aufrüstung
- Tonaufnahmen: Initiativen der Veränderung, digital bearbeitet von Leif Söderlund 2020)
- Foto oben: Danielle Maillefer
- Fotos Text: Initiativen der Veränderung
- Video: Crossroad of Nations, 25 years of Caux aus den IofC & For a new world - Archivens
- Korrekturlesung: Maya Fiaux