"Seid füreinander da!"
Ein Blog von Lotty Wolvekamp
02/04/2020
Lotty Wolvekamp lebt in den Niederlanden. Vor einigen Nächten wurde sie von einer Freundin gefragt, wie sie es schaffe, in der aktuellen Krise nicht depressiv zu werden. Also setzte sie sich mit ihrem Hund Donna, der neben ihr auf dem Stuhl schlief, an ihren Computer und schrieb den folgenden Blog.
"Immer auf die positive Seite des Lebens schauen!" Ja, das könnte für das normale Leben zutreffen. Aber das Leben in dieser Phase ist alles andere als normal.
Natürlich gibt es Momente, in denen mir das bewusst wird, vor allem, wenn ich allein in meiner Wohnung bin. Und ich bin froh, wenn 10 Tage verstrichen sind und mich jemand, der wahrscheinlich das Virus hatte, nicht angesteckt hat. Ich bin auch nur ein Mensch!
In den letzten Tagen gab es so viele Menschen, die Beruhigung, Trost und Ermutigung brauchten, so viele Mythen, die es zu durchbrechen galt. Ich habe gerade einen Aushang in unserem Gebäude angebracht, um sicherzustellen, dass die Leute nicht gemeinsam in den Aufzug steigen und um sicherzugehen, dass sie einen Abstand zwischen sich halten. Niemand sonst scheint an diese Dinge zu denken, ausser unserer Putzmann Xavier. Mit echtem spanischen Stolz erzählte er mir, wie er die Dinge speziell desinfiziert. Wunderbar!
Heute habe ich mit vier Familien gesprochen, deren Mitglieder sich wahrscheinlich alle mit dem Virus angesteckt haben (es finden keine weiteren Tests statt) und die wirklich krank waren.... Alle erholen sich wieder.
Ein Familienmitglied, das fast nie anruft, kontaktierte mich und erzählt mir, dass er den Onkel und die Tanten angerufen habe. Alles sei in Ordnung. "Und bei dir ist auch alles in Ordnung, ja?
Vor einigen Tagen besuchte ich eine Freundin, die vor kurzem 100 Jahre alt geworden ist. Der Ort, an dem sie lebt, war an diesem Nachmittag abgeriegelt. Kein Zugang mehr. Das fühlt sich seltsam an. Aufgrund ihrer Taubheit kann sie nicht telefonieren. Und sie kann nicht schreiben, weil ihre Hände nicht wollen. Wir sagten uns: "Wir werden uns wiedersehen, hier oder anderswo. Gott hält an uns fest." Beide waren wir völlig in Frieden und gelassen... aber mit einem großen Kloss im Hals.
Dann bestellte ich online eine kleine Gefriertruhe für eine andere Freundin im Alter von 84 Jahren, damit ich ihr ein paar Mahlzeiten anbieten kann, nur für den Fall....
Während meines Spaziergangs mit Donna heute fiel mir ein Weg ein, wie ich meine 100-jährige Freundin sehen könnte. Sie wohnt im ersten Stock und schaut auf ein Feld hinunter. Donna und ich können dort stehen und ihr zu einer vorher vereinbarten Zeit zuwinken. Auf diese Weise weiss sie, dass wir ihr nahe sind. (PS: Es hat wunderbar funktioniert!!)
Ja, es werden noch viel mehr Menschen krank werden. Und es ist gut möglich, dass einige, die uns lieb sind, sterben werden.
Alles, was wir wissen, ist auf den Kopf gestellt und das ist erst der Anfang. In den kommenden Wochen wird nichts selbstverständlich sein. Das ist etwas, mit dem die meisten Menschen noch nie konfrontiert waren.
Ich musste an meine Zeit während der Diktatur in Argentinien zurückdenken, an meine Besuche in Flüchtlingslagern in Thailand und in den Slums in Brasilien und Kenia.
Dort fehlte es an allem, auch an Wasser und Strom. Es wurde gegen einen sichtbaren Feind gekämpft.
Jetzt kämpfen wir gegen einen unsichtbaren Feind. Aber vor allem gegen uns selbst, um uns nicht von der Ratlosigkeit, der Panik und der Angst, die gerade mal um die Ecke stehen, überwältigen zu lassen.
Das Paradoxe ist der Frühling: wir werden überwältigt von Blumen und Blüten. Die Vögel singen ihr lautestes Lied.
Hinter allen Zweifeln und der Unruhe in unserem Leben verbirgt sich eine tiefe Quelle des Vertrauens und der Weisheit: in dir, in mir, in allen.
Unsere vielleicht grösste Herausforderung besteht jetzt darin, diese Quelle anzuzapfen und lebendiges Wasser fliessen zu lassen.
Jüngere Freundinnen und Freunde rufen mich an und wollen sicher sein, dass es mir gut geht. "Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst!" Absolut herzerwärmend.
Eine davon fühlte sich so schuldig, dass sie nicht mehr tat. Aber ihre Arbeit ist für viele Menschen wichtig. Diese Arbeit gut zu machen ist jetzt ihre wichtigste Verantwortung.
Das ist etwas, was wir tun können: Füreinander da sein. Und diejenigen, die einen Glauben haben - lasst ihn auf eine Weise sprechen, die uns zueigen, echt und voller Überzeugung ist.
Lotty Wolvekamp, 20. März 2020