75 Jahre, 75 Geschichten
Von Yara Zgheib
01/02/2021
Zum Auftakt unserer Reihe von 75 Geschichten, mit der wir das 75-jährige Jubiläum von Initiativen der Veränderung in Caux feiern, denkt Yara Zgheib aus dem Libanon über diesen besonderen Ort hoch oben in den Schweizer Bergen nach, der das Leben vieler Menschen aus aller Welt verändert hat.
"Die Sonne geht über dem Genfer See unter. Von der Terrasse des Caux Palace aus hat man den Eindruck, als würde er in Flammen stehen. Die Luft erscheint lila und orange. Es riecht auch nach Orange - nach den Früchten, die wir gerade geschält und geteilt haben. Wir, das sind Menschen aus dem Libanon, Frankreich, der Schweiz, Deutschland, England, Indien, Marokko, Äthiopien, der Ukraine. Und ausserdem ein Holländer-Hawaiianer-Palästinenser, der Bob Marley auf seiner Gitarre spielt.
Auf einem Tisch rechts von mir werden zwei Kaffees in Porzellantassen kalt. Daneben stehen sich zwei Männer gegenüber. Sie kommen aus dem Krieg. Noch vor kurzer Zeit haben sie Krieg geführt. Hier reichen sie sich die Kaffeesahne. Hier müssen sie reden. Hier, zwischen ihnen, Zucker, eine Pflaume, etwas Brot. Der Tisch knarrt unter ihren Geschichten, jede wahr und persönlich. Die Vergangenheit, Verletzungen, Vorurteile, Ängste. Ich bin mit meiner eigenen hierhergekommen: am 25. Juni 2010, ein Mädchen, ein Wrack.
Ich war mit einem schweren blauen Koffer aus der Bergbahn gestiegen. Ich war wütend und müde und trauerte. Ich war 21 und hatte so viel verloren. Ich hatte nicht zu Mittag gegessen und auch nicht viel geschlafen. Ich hatte keine Erwartungen. Ein Fremder führte mich in einen leeren Speisesaal und bot mir ein Sandwich an.
Meine Geschichte ist nichts Besonderes und sie gehört auch nicht mir. Sie ist Teil dieses Konferenzzentrums.
Ich fand mich zwischen dem Blau des Sees und des Himmels wieder. Den Rest des Monats verbrachte ich damit, Hunderten von Menschen Mahlzeiten zu servieren. Ich ass mit Rebellinnen und Rebellen, Musikerinnen und Musikern, Studierenden, Aktivistinnen und Aktivisten, Kaffeebohnenbauern, Priestern, Scheichs und einer ehemaligen Vizepräsidentin ihres Landes. Ich faltete Wäsche und spülte Telle. Und zum ersten Mal in meinem Leben kam ich zur Ruhe.
Auch der Krieg, der in mir wütete, wurde still. Dieser Ort lehrte mich zu atmen, zu sehen, andere und mich selbst. Als ich ihn wieder verliess, fühlte ich mich so leicht, dass ich nach Montreux hätte fliegen können.
Aber meine Geschichte ist nichts Besonderes und sie gehört auch nicht mir. Sie ist Teil dieses Konferenzzentrums. Sie ist 75 Jahre alt und umfasst Hunderttausende von Zugfahrten, Spaziergängen, Vorträgen, Tees, Gesprächen und stillen Momenten einer grossen Veränderung.
Fünfundsiebzig Jahre. Fünfundsiebzig Geschichten so vieler Menschen. Um dieses Jubiläum zu feiern, werden wir das ganze Jahr über jene Geschichten erzählen, die in diesem Palast auf dem Berg geschehen sind - eine Geschichte für jedes Jahr seit 1946 und dem ersten Treffen von Initiativen der Veränderung an diesem Ort.
Dabei blicken wir nach vorne und nach oben. Auf das Blau und die kommenden Jahre."
Yara Zgheib ist Schriftstellerin, Reisende und liebt Natur, Jazz und Kunst. Sie wurde im Libanon geboren und hat Teile ihres Herzens in Paris, London und Boston zurückgelassen. Sie ist die Autorin von The Girls at 17 Swann Street und dem in Kürze erscheinenden No Land to Light On. Auf ihrem Blog The non-Utilitarian schreibt sie wöchentlich über Kultur, Kunst, Reisen und Philosophie. Ihre Essays sind Prosa, Poesie und Betrachtungen über Dinge, die weder praktisch noch nützlich, aber wahr und schön sind. Unverzichtbar. Sie berät ausserdem Regierungen und den Non-Profit-Sektor über Friedens- und Sicherheitsstrategien und hat sich dabei auf Konfliktlösung, Terrorismusbekämpfung und die Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus spezialisiert. Sie ist Fulbright-Stipendiatin mit einem Master in Sicherheitsstudien der Georgetown University und einem Doktortitel in internationalen Angelegenheiten und Diplomatie des Centre d'Etudes Diplomatiques et Stratégiques der Hautes Ecoles Politiques de Paris. Yara lernte Initiativen der Veränderung 2011 kennen und war Mitorganisatorin des Forums Gerechte Regierungsführung für menschliche Sicherheit und Vorsitzende des Programms humansecurityX. Sie glaubt fest daran, dass Liebe und Ideen die Welt verändern können. Sie mag Bücher und kluge Gespräche, frühmorgendliches Yoga und Abendspaziergänge.
Diese Geschichte markiert den Beginn unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Menschen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zgheib. weiter.
Entdecken Sie hier unsere ersten Geschichten:
- 1946 - Trudi Trüssel: "Es braucht auch eure Klasse, um eine neue Welt aufzubauen"
- 1947 - Peter Petersen: "Alles, was wir uns zu unserer Verteidigung zurechtgelegt hatten, brach zusammen"
- 1948 - Paul Misraki: Soundtrack for a new Germany
- 1949 - 1949: Max Bladeck: Jenseits des Klassenkampfes
- 1950 - Yukika Shoma: "Japan kann zu neuem Leben erwachen"
Foto Caux Palace: Adrien Giovannelli