1946 - Trudi Trüssel: "Es braucht auch eure Klasse, um eine neue Welt aufzubauen."
Von Andrew Stallybrass
02/02/2021
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren eine kleine Gruppe von Schweizerinnen und Schweizern der Überzeugung, Initiativen der Veränderung könne zur Heilung und Aussöhung des vom Krieg zerstörten Europas beitragen. Sie begaben sich auf die Suche nach einem Gebäude, in dem sie Konferenz abhalten konnten, um verfeindete Nationen an einen Tisch zu bringen. Im Jahr 1946 war die Schweizerin Trudi Trüssel 28 Jahre alt und arbeitete in Bern für die Familie von Philippe and Hélène Mottu, die eng mit Initiativen der Veränderung verbunden waren. Sie schrieb:
Auf der Suche nach einem möglichen Konferenzzentrum stiess man auf das vernachlässigte Palace Hotel in Caux oberhalb Montreux. Eines Tages kamen einige der Verantwortlichen in unserem Haus zusammen, um die endgültige Entscheidung über den Kauf zu fällen. Ich hatte für die Gäste das Mittagsessen serviert und war beim Abwaschen.
Da kam einer der Herren Gäste zu mir in die Küche und sagte, er möchte, dass ich auch dabei wäre, wenn sie über den Kauf entschieden. Ich fuhr ihn an, er solle nichts von mir erwarten; jetzt sei es einmal an den Reichen, etwas zu tun; ich wolle nichts davon wissen. Ich spürte das zutiefst, denn ich gab den Reichen die Schuld, dass es vielen Menschen so schlecht ging. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, dass einige alles haben können, was sie wollen, ohne auch nur einen Finger zu rühren, und andere sich so abrackern müssen. Über diese Ungerechtigkeit war ich zutiefst verbittert.
Der Mann ging dann hinaus; er war sehr betroffen, dass so etwas aus mir herauskommen konnte. Ich war sonst immer zurückhaltend gewesen, und niemand wusste, was ich wirklich dachte...
Kurz darauf kam er in die Küche zurück und sagte: „Sie haben recht. Wir Reichen müssen etwas tun, aber wir können es nicht ohne euch. Es braucht auch eure Klasse, um eine neue Welt aufzubauen.“ Irgendwo wurde mein Herz berührt, als er sagte: „Wir brauchen euch.“
Irgendwo wurde mein Herz berührt, als er sagte: „Wir brauchen euch.“
Ich ging mit ihm in den Salon, wo drei Ehepaare sassen, die bereit waren, mit ihrem Geld das Palace Hotel in Caux zu kaufen.
Von Lausanne aus, wo wir auch einmal gewohnt hatten, bewunderte ich oft am Abend den Widerschein der Sonne in den Fenstern jenes alten Hotels. An einem freien Tag war ich dann einmal allein nach Caux hinaufgefahren und hatte mir das Hotel von aussen angesehen. Es war ungepflegt und schmutzig.
Als ich hörte, dass sie das kaufen wollten, überwarf es mich fast. Ich wusste, diese drei Familien hatten ein schönes Leben und genug Geld; alles, was sie sich wünschten, hätten sie haben können.
Sie hielten dann eine Stille Zeit, um – wie sie sagten – Gottes Führung zu suchen. Ich selber aber konnte mit dem lieben Gott nichts anfangen. Ich hatte nie gesagt, es gäbe ihn nicht. Doch ich war im Leben so verletzt worden, dass es tief in mir eingeprägt war, Gott hätte nur die Reichen und Guten gern.
Alle waren dann still. Ich auch. In jenem Moment kam mir der Gedanke, ich sollte zweihundert Franken geben – das waren zwei Monatslöhne. Doch jeden Franken hatte ich für meine Ausbildung zur Krankenschwester einkalkuliert.
Ich wusste, dieser Gedanke konnte nicht von mir kommen. Ich ging dann hinaus und räumte die Küche auf. Doch der Gedanke an diese zweihundert Franken liess mich nicht mehr los. Irgendwie spürte ich, dass das eine Chance sein könnte, und dass Gott vielleicht doch auch für mich da ist."
Trudi gehörte zu den 100 Schweizer Einzelpersonen und Familien, die 1946 beschlossen, den Caux Palace zu kaufen. Sie wurde nie Krankenschwester, sondern widmete ihr Leben der Arbeit von IofC und lebte viele Jahre lang in Caux. Sie arbeitete in der Caux-Küche und später in der internen Poststelle des Caux Palace sowie in der Telefonzentrale und wurde somit zu einem Bindeglied zwischen Menschen innerhalb und ausserhalb von Caux..
Angepasst und übernommen aus "Aus meinem Leben" (Trudi Trüssel,1984)
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Stöbern Sie hier im allerersten Jahresbericht der Caux-Stiftung von 1946.
Entdecken Sie diesen Stummfilm aus unserem Filmarchiv über die Eröffnung des Konferenzzentrums im Caux Palace 1946
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Die Journalistin Irene de Pous aus den Niederlanden kam schon als Kind nach Caux, wo sie Trudi regelmässig traf. Sie schreibt:
"Jedes Jahr, wenn wir nach Caux kamen, nahm mich Trudi Trüssel beiseite und überraschte mich mit den schönsten gestrickten Puppenkleidern. Sie machte sie speziell in der Grösse meiner Puppe, Sjolaika. Sie waren alle sehr unterschiedlich in Stil und Farbe. Als Kind war ich hin und weg und freute mich immer darauf, sie meinen Freunden zu zeigen.
Jetzt, mit 35 Jahren, habe ich die ganze Sammlung von 32 Stück noch einmal durchgesehen, um sie meinen kleinen Nichten weiterzugeben. Wenn ich sie mit erwachsenen Augen betrachte, weiss ich die Zeit, die Mühe und die Selbstlosigkeit zu schätzen, die Trudi in die Herstellung dieser Kleider gesteckt hat. Sie sind wirklich kleine Kunstwerke.
Zum ersten Mal habe ich ihre Lebensgeschichte gelesen und bin beeindruckt, dass sie nach allem, was sie durchgemacht hat, und nach einer so schwierigen Kindheit, ein so grosszügiger Mensch geworden ist, besonders Kindern gegenüber.
Ich habe eine besonders schöne Schachtel für alle Kleider gekauft und die Geschichte ihrer Schöpferin beigelegt. Auf diese Weise hoffe ich, die 'Trudi-Sammlung' zu ehren. Ich bin sicher, dass meine Nichten Freude daran haben werden."
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Diese Geschichte ist Teil unserer Serie "75 Jahre der Geschichten" über Einzelpersonen, die durch Caux eine neue Richtung und Inspiration für ihr Leben gefunden haben - eine Geschichte für jedes Jahr von 1946 bis 2021. Wenn Sie eine Geschichte kennen, die sich für diese Serie eignet, leiten Sie Ihre Ideen bitte per E-Mail an John Bond oder Yara Zhgeib. weiter. Wenn Sie mehr über die Anfangsjahre von Initiativen der Veränderung und das Konferenzzentrum in Caux erfahren möchten, klicken Sie bitte hier und besuchen Sie die Plattform For A New World.
- Fotos von Trudi: Initiativen der Veränderung
- Fotos Puppen: Irene de Pous
- Video: IofC Film Archives
- Übersetzung/Korrekturlesung: Maya Fiaux